Kurz nach der Abgabe ihrer Bachelorarbeit tritt Solveig Velten die Reise ihres Lebens an: Die Kulturwissenschaftlerin geht mit dem internationalen Friedensdienst Eirene nach Nicaragua, um sich für die Rechte der Frauen einzusetzen. Doch nicht nur für die Menschen vor Ort ist der Freiwilligendienst eine Chance, auch Velten spürt, dass sie in Mittelamerika jeden Tag etwas dazulernt.
Am 2. August 2017 verabschiedete ich mich am Flughafen Frankfurt von Freunden und Familie und trat die Reise nach Nicaragua an: 14 Monate Freiwilligendienst lagen vor mir. Gemeinsam mit den anderen Mitfreiwilligen reiste ich über Costa Rica nach Nicaragua und wurden dort von den Koordinatoren von Eirene am Flughafen abgeholt. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Hauptstadt Managua brachen wir mit dem Bus Richtung Norden auf. Ich war fasziniert vom Essen der Verkäufer im Bus und von der unglaublich grünen Landschaft, an der wir vorbeifuhren. Im kleinen Ort Estelí startete unser Aufenthalt mit einem vierwöchigen Sprachkurs.
Und tschüss… !
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Danach konnte ich es kaum erwarten, endlich nach Matagalpa zu kommen und meine Einsatzstelle kennenzulernen. Ich arbeite für die Organisation Grupo Venancia. Sie hat das Ziel, durch kulturelle Programme wie Konzerte, Theateraufführungen und Diskussionen über die Rechte von Frauen aufzuklären. Es ist ein durchaus feministisch geprägtes Kulturzentrum. Die Situation der Frauen in Nicaragua zeichnet sich durch ein traditionelles Frauenbild aus, das auch durch strukturelle Diskriminierung geprägt ist: Frauen haben in diesem Land keinen Besitz. Nur Männer besitzen und können Unterschriften für Kaufabschlüsse tätigen. Wenn die Frauen sich aufgrund von Gewalt von ihren Männern trennen, haben sie oft keine Lebensgrundlage mehr. Aus Angst vor verbaler und körperlicher Gewalt verbleiben viele in dieser Situation. Da ich das Thema Frauenrechte als Schwerpunkt während meines Studiums der Kulturwissenschaft gewählt hatte, war der Weg nach Nicaragua der richtige für mich: Grupo Venancia widmet sich der Stärkung der Persönlichkeit der Frauen durch Workshops und Hilfsnetzwerke. Ich nahm an den Workshops teil und konnte so die Arbeit der Entwicklungshelfer und das fachspezifische Vokabular kennenlernen.
Friedensdienst in einer anderen Welt
Zu Eirene und zu Grupo Venancia kam ich über ein Pflichtpraktikum während des Studiums. Eirene hat seinen Sitz in Neuwied und ist eine weltweit aktive Nicht-Regierungsorganisation (NGO), die im friedenspolitischen Rahmen arbeitet. Das Programm, in dessen Kontext ich tätig bin, heißt Weltwärts. Eirene leistet Entwicklungszusammenarbeit und Freiwilligendienste. Nach meinem Praktikum war ich weiterhin ehrenamtlich bei Eirene tätig und habe in der Zeit viele Leute getroffen, die im Ausland waren oder es planten. Die Gespräche mit diesen Menschen inspirierten mich dazu, selbst einen Friedensdienst zu leisten. Wir wurden durch Seminare und Kurse gut auf unsere Zeit im Ausland vorbereitet. Wichtig war, dass wir uns unserer Rolle als westliche Person im globalen Süden bewusst wurden und unserer westlichen Standards nicht als selbstverständlich aufzufassen. Der Freiwilligendienst im Allgemeinen ist wechselseitig, es gibt auch junge Menschen, die von Nicaragua nach Neuwied kommen.
Der Kulturschock ist dabei in gewisser Weise vorprogrammiert, denn Deutschland und Nicaragua könnten unterschiedlicher nicht sein. Vom regnerischen und schwülen Klima bis hin zu den Kakerlaken, Ameisen, Fliegen, von Speisen, Gerüchen und den Gewohnheiten der Menschen: Alles in Nicaragua ist für mich faszinierend und manchmal auch eine Herausforderung. An einem Morgen holte mich meine Chefin ab und auf dem Weg zu einem Workshop fuhren wir mitten durch den Dschungel. Es war dort so laut, dass wir fast schreien mussten, um uns zu verstehen. Überall machten sich Insekten geräuschvoll durch Zirpen, Summen und Quietschen bemerkbar. Straßen gibt es kaum und wenn, waren sie überflutet. Rechts und links erstreckten sich Kaffee- und Bohnenplantagen und wir begegneten Menschen, die Kakaobohnen sortierten.
Mein Alltag in Matagalpa
Es gibt in Nicaragua auch heute noch Dinge, die nicht verstehe und die mir niemand erklären kann. Was eine Entschuldigung bedeutet oder wann sie angebracht wäre, ist in Nicaragua und in Deutschland zum Beispiel sehr verschieden. Diese kulturellen Unterschiede sind eine persönliche Grenzerfahrung, durch die man sich selbst besser kennenlernt und in kurzer Zeit sehr reift. Ich merke es an mir selbst, aber gerade auch bei den 18- oder 19-jährigen Freiwilligen. Man kann richtig zusehen, wie sie erwachsen werden.
Ende Oktober 2017 zog ich in eine Wohngemeinschaft. Zu Beginn wohnte ich noch in einer Gastfamilie, heute lebe ich mit zwei einheimischen Frauen, einem Hund und einigen Hühnern in einem kleinen Haus mit Garten. Wir drei unternehmen viel, sind oft unterwegs und stehen uns nah. Die beiden Frauen haben vor Ort eine eigene Bäckerei und stehen jeden Morgen früh auf. Auch mein Tag beginnt um sechs, da es morgens noch am kühlsten und die Arbeit oft tageslichtabhängig ist. Morgens muss jemand die Hühner rauslassen, die drinnen schlafen. In der Mittagespause gehe ich oft auf den Markt. Mittlerweile bin ich mit einer Marktfrau befreundet. Ich kaufe bei ihr Mangos und Avocados. Auf dem Markt ist immer viel los, viele Menschen und Gewusel. Ich mag das Einkaufen hier, das frische Gemüse und vor allem den Kaffee. Hier im bergigen Norden wird Kaffee überall angebaut. Man kann alle Stadien des Wachstums und der Herstellung beobachten. Wenn man vorher kein Kaffeetrinker war, dann wird man es spätestens hier. Schwarz mit Zucker ist die übliche Art, den Kaffee zu trinken. Um 17 Uhr habe ich Feierabend und gehe nach Hause. Einmal in der Woche bringen mir meine Mitbewohnerinnen traditionelle Gerichte bei. Wir frittieren Kochbananen, bereiten Gallo Pinto mit Reis und Bohnen zu und backen Tortillas. Das Leben hier ist ganz anders als Zuhause, aber genau deswegen werde ich die Zeit in Matagalpa nie vergessen.
Protokoll: Esther Guretzke