Einstellungsentscheidungen können unfair sein. Und zwar immer dann, wenn statt der Qualifikation des Bewerbers andere Merkmale wie sein Geschlecht oder seine Herkunft zu voreiligen Entscheidungen führen. Vorurteile und Gruppenstereotype können der Grund dafür sein. Sozialpsychologin Prof. Melanie Steffens untersucht am Campus Landau, welche Konsequenzen Vorurteile haben und wie man ihnen begegnen kann.
Frau Steffens, Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung mit Vorurteilen. Was versteht man darunter überhaupt?
Die Serie
Was gibt es Neues in der Wissenschaft? Wir stellen Personen und Projekte vor, die im Dienst der Universität Koblenz-Landau die Forschung voranbringen.
Mit Vorurteilen meinen wir immer die positiven und negativen Bewertungen. Vorurteile haben ein schlechtes Image, nämlich, dass man Menschen schon beurteilt oder Eindrücke von Personengruppen hat, bevor man sich näher mit ihnen befasst hat und sich ein ganz individuelles und zutreffendes Bild machen konnte. In der Forschung gehen wir davon aus, dass wir Vorurteile und auch Gruppenstereotype benötigen, um die Umwelt besser strukturieren zu können. Stellen Sie sich vor, bei jedem einzelnen Menschen, dem man begegnet, hat man keine Möglichkeit einzuschätzen, ob dieser beispielsweise gefährlich für einen ist. Dadurch, dass wir Gruppenstereotype haben und Vorurteile, die damit assoziiert sind, können wir viel schneller auf unsere Umwelt reagieren, als wenn wir in jeder Situation völlig offen und ganz ohne Anhaltspunkte wären.
Ein Beispiel: Sagen wir mal, eine Frau, die nachts allein in der Stadt unterwegs ist, muss sich für ihren Heimweg entscheiden. Wählt sie den linken oder den rechten Weg, wenn sie links drei ältere Damen sieht und rechts drei junge Männer? Welcher Weg ist dann vielleicht gefährlicher? Da ist es sehr nützlich, schnell urteilen zu können, auch wenn es vielleicht im Einzelfall verkehrt sein kann. Wenn man von den drei älteren Damen überfallen worden ist, weiß man nachher, dass das Gruppenstereotyp „Ältere Damen sind harmlos“ in dem Fall leider verkehrt war. Jedoch sind Stereotype häufig sehr nützlich für uns.
Welche negativen Auswirkungen können Vorurteile haben?
Eine andere wichtige Funktion von Gruppenstereotypen ist, dass sie auch dazu dienen können, Verhältnisse in der Gesellschaft zu rechtfertigen. Falls jemand das Stereotyp hätte, dass Männer gut Entscheidungen treffen und andere führen können, Frauen dagegen die Stärke haben, sich liebevoll um andere zu kümmern, wäre das etwas, was eine traditionelle Arbeitsaufteilung in Partnerschaften rechtfertigen würde. Weil Frauen sich so gut kümmern können, sind sie dann als Mütter und Hausfrauen zu Hause. Weil Männer so gut führen können, finden wir sie in den Chefetagen. Das Stereotyp führt dazu, dass wir manche Verhältnisse in der Gesellschaft weniger infrage stellen. Wenn man einen Flüchtling sieht, der Toiletten putzt, kommt einem das im ersten Moment nicht komisch vor. Stereotype, die wir möglicherweise über Flüchtlinge haben, kommen erst dann zum Vorschein, wenn wir erfahren, dass dieser Flüchtling in seiner Heimat Arzt war und viel mehr Qualifikationen besitzt, als wir auf den ersten Blick für möglich halten. Dann merken wir, dass etwas schief läuft.
Gibt es Personen, die sicher vor Vorurteilen sind?
Nein, denn wir alle gehören unterschiedlichen sozialen Gruppen an und werden in diese Gruppen eingeordnet. Egal, ob Sie in Südeuropa sind und die dort denken: Ach Deutsche, die sind trocken und nicht herzlich, dafür aber pünktlich. Sie werden vielleicht anders behandelt, als wenn die Person denken würde, Sie sind Grieche und dann andere Stereotype damit verbindet. Es gibt keine Menschen, von denen man sagen könnte, die werden nicht von anderen vorschnell in Schubladen einsortiert.
Wozu forschen Sie?
In unserer Forschung schauen wir uns an, welche Konsequenzen mit der Einordnung in Gruppen verbunden sein können. Zum Beispiel bei der Beurteilung von Bewerbungsunterlagen. Schon der Name zeigt manchmal, dass Personen unterschiedlichen Gruppen zugehören. Das führt dazu, dass eine Personalchefin möglicherweise schon andere Erwartungen an die Stärken und Kompetenzen der Personen hat. Das kann natürlich zu unfairen Entscheidungen führen und ist etwas, was sich nur schwer vermeiden lässt. Menschen können sich einen individuellen Eindruck von Personen bilden, wenn sie genug Zeit und Energie investieren. Aber erstmal leiten solche Gruppenstereotype unsere Eindrucksbildung – und wenn wir uns erstmal einen Eindruck gebildet haben, dann gibt es auch stabilisierende Prozesse.
Sie haben in einer Studie untersucht, wie Dialekte im Bewerbungsgespräch wirken. Was haben sie herausgefunden?
Wir haben einen Forschungsstrang, in dem wir uns vor allem mit Stimmen und Sprechweisen beschäftigen. Da haben wir zum Beispiel herausgefunden, dass wenn man Personen Ausschnitte von Bewerbungsgesprächen vorspielt und sie bittet, einzuordnen, wie nett und kompetent diese Person ist, die gleichen Inhalte unterschiedlich bewertet werden. Je nachdem, ob der Bewerber mit einem starken Dialekt spricht oder nicht. Sie können so schlaue Sachen sagen wie Sie wollen, wenn Sie das mit einem starken Dialekt tun, kann es sein, dass Sie unfair beurteilt werden und für schlechter gehalten werden, als Sie eigentlich sind.
Mit Dialekten sind ja auch sehr positive Dinge verbunden, wie Wärme und Verbundenheit. Jedoch wird man mit einem Dialekt auf der Kompetenz-Dimension eher schlecht beurteilt. Die betrachtete Position könnte dabei eine Rolle spielen, wir haben uns in der Studie Führungspositionen angeschaut. Unsere Versuchspersonen sollten also versuchen, zu beurteilen, wie kompetent jemand für eine Führungsposition ist. Es kann natürlich sein, dass der Dialekt weniger ins Gewicht fällt, wenn Sie eine Stelle als Automechanikerin oder Krankenpflegerin suchen.
Haben es Homosexuelle und andere Minderheiten besonders schwer in einem Bewerbungsprozess?
In einem DFG-Projekt, was derzeit läuft, schauen wir uns an, wie die sexuelle Orientierung von Bewerbern auf die Eindrucksbildung wirkt. Und zwar isoliert oder in Kombination mit anderen Mitgliedschaften: Beispielsweise wie ein schwuler Türke im Vergleich zu einem heterosexuellen Türken, einem heterosexuellen Deutschstämmigen und einem schwulen Deutschstämmigen beurteilt wird. Interessant an dem Projekt ist, dass es alle Arten von Befunden gibt. Jeder wird mal diskriminiert, es kommt nur auf die Passung zwischen den Stereotypen an, die wir von bestimmten Gruppen und den Stellen haben. Wir haben nämlich auch Stereotype von Stellen: In einem Job muss man durchsetzungsfähig sein und in einem anderen sollte man besonders auf andere Menschen eingehen können. Ein Job, bei dem man besonders einfühlsam sein muss, war die Stelle als Grundschullehrer – da wurden die heterosexuellen deutschstämmigen Männer diskriminiert. Man hat ihnen weniger als Schwulen oder auch Türken zugetraut, dass sie auf die Kinder eingehen können. Wenn es andererseits um die Stelle als Polizist ging und die Durchsetzungsfähigkeit wichtiger war, wurden die heterosexuellen deutschstämmigen Frauen am meisten diskriminiert. Das entspricht auch dem Stereotyp von Lesben, dass man ihnen zutraut, eher typisch männliche Eigenschaften zu verkörpern. Wieso in unserer Studie die heterosexuellen Türkinnen im Vergleich zu heterosexuellen deutschen Frauen weniger diskriminiert wurden, versuchen wir noch herauszufinden.
Laut Ihren Forschungsergebnissen gibt es also immer noch viele Menschen, die ein klassisches Rollenbild von Frau und Mann haben?
Es ist ein interessanter Fall: Wenn man Menschen fragt, ob sie Stereotype und speziell Geschlechterstereotype haben, dann antworten die meisten mit Nein. Wenn wir aber versuchen, diesen Stereotypen auf die Spur zu kommen, zum Beispiel mit impliziten Maßen, dann finden wir doch starke Hinweise auf Stereotype. Wir messen Reaktionszeiten bei verschiedenen Zuordnungsaufgaben und schließen aus den Reaktionszeiten darauf, ob bestimmte Konzepte für jemanden zusammenpassen. Es wurde unter anderem Untersucht, ob die Wörter „Frauen – Karriere“ und „Männer – Haushalt“ zusammenpassen. Das passt für die meisten sehr viel schlechter zusammen als „Männer – Karriere“ und „Frauen – Haushalt“. In unserer Kultur ist tief in den Köpfen verankert, dass manche Aufgaben eher für Männer und manche für Frauen gemacht sind.
Wie entstehen solche Stereotype?
Es gibt Theorien die besagen, dass in Stereotypen immer ein Körnchen Wahrheit steckt. Weil es Gruppenmitglieder gibt, die dem Stereotyp entsprechen, wird es auf die ganze Gruppe übertragen. Wenn Sie einen schwulen Mann kennen, der mit hoher Stimme spricht, dann denken Sie, dass alle Schwulen so sind. Wenn Sie einen schwulen Mann kennenlernen, der nicht mit hoher Stimme spricht, dann merken Sie vielleicht gar nicht, dass er schwul ist. Deswegen können Sie das Stereotyp aufrechterhalten. Es gibt aber auch andere Theorien und Befunde, die zeigen, dass Stereotype aus dem Nichts entstehen können. Einfach dadurch, dass zufällig Informationen miteinander gepaart werden.
Stellen Sie sich vor, Sie lernen einen Asiaten kennen, der unheimlich gut in Mathe ist. Sie lernen einen zweiten Asiaten kennen, der auch gut in Mathe ist. Dann ist das Stereotyp schon drin und Sie denken, hier gibt es eine Regel, das ist bestimmt bei allen Asiaten so. Wenn man einmal ein Stereotyp etabliert hat, neigt man dazu, sich besser an die Dinge zu erinnern, die mit dem Stereotyp im Einklang stehen. Das heißt, den dritten Asiaten, der schlecht in Mathe ist, den vergessen Sie schnell wieder. An den vierten Asiaten, der gute Leistungen in Mathematik erbringt, erinnern Sie sich wieder gut. Denn das passt ja genau in die von Ihnen bereits etablierten kognitiven Strukturen hinein. Und schon hat sich ein Stereotyp verfestigt.
Hat sich in den letzten Jahrzehnten also nichts an unseren Vorstellungen über Geschlechterrollen verändert?
Beruhigenderweise haben wir Hinweise auf die Veränderung von Stereotypen. Während in den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts Kompetenz und Intelligenz ein eindeutiges Männerstereotyp waren, hat sich das in den letzten Jahren gewandelt. Wenn wir schauen, welche Gruppen Personen mit Kompetenz assoziieren, dann ist es heute eigentlich immer die Eigengruppe. Frauen haben automatisch die Assoziation, dass Frauen kompetent sind, und Männer haben eindeutig die Assoziation, dass Männer kompetent sind. Dieser Befund, seine eigene Gruppe positiv zu bewerten, ist ganz typisch.
Wie kann man verhindern, dass unfaire Entscheidungen im Arbeitskontext getroffen werden?
Wenn Sie als Bewerberin fair behandelt werden wollen, ist es am besten, wenn möglichst eindeutige Informationen über Ihre Qualifikationen vorliegen. So denkt jemand mit einem Stereotyp, dass begnadete Wissenschaftler eher männlich sind und findet Sie als Frau ungeeignet für die Stelle. In dem Moment, in dem klar wird, dass Sie eine Nobelpreisträgerin sind, haben Sie kein Problem mehr. Ganz im Gegenteil, dann denkt diese Person vielleicht, dass Sie besonders leistungsfähig sind, da Frauen es ja bekanntlich schwerer haben, Karriere zu machen und Sie trotz dieser Umstände eine so tolle Leistung erreicht haben. Man kann dem negativen Stereotyp also entgehen, indem man ihn mit positiven Informationen über die eigene Leistung konfrontiert. Überhaupt hilft Information sehr: Experimente zeigen, dass ein Personalverantwortlicher gut damit beraten ist, sich viel Zeit zu nehmen und die Jobaspiranten gründlich in allen Dimensionen einzuschätzen. Also nicht mal eben zwanzig Bewerbungen in zwanzig Minuten durchzugehen, sondern sich für jede ausreichend Zeit zu nehmen. Es ist wichtig, sich vorher zu überlegen, welche Kriterien die entscheidenden sind. Die Person sollte entsprechend auf jede dieser Kriterien bewertet werden. Das hilft sehr, einem oberflächlichen Eindruck keinen Einfluss auf seine Entscheidungen zu geben. Ein Unternehmen sollte von Entscheidungsträgern verlangen, ihre Entscheidungen transparent zu machen und sie zu begründen. Dann haben die Stereotype lediglich einen geringeren Einfluss auf die Urteile.
Anzuraten ist auch, nicht zu lange Zeit verstreichen zu lassen und aus dem Gedächtnis zu beurteilen. Denn da wo man Erinnerungslücken hat, greift man schnell auf seine Stereotype zurück und fällt vorschnelle Urteile. Das kann man experimentell einfach untersuchen, indem man einen Polizisten und eine Polizistin dasselbe tun lässt und die Versuchspersonen direkt im Anschluss oder zwei Wochen später die Fähigkeiten beurteilen müssen. Zwei Wochen später hilft das Stereotyp dann wieder dabei, dem Mann Kompetenzen zu unterstellen, die er noch gar nicht nachgewiesen hatte.
Ihr Tipp, um seinen Stereotypen im Alltag auf die Schliche zu kommen?
Wenn man sehr motiviert ist, Stereotype zu vermeiden und das auch einübt, klappt es mit der Zeit ganz gut. Ein Personalchef kann sich vor dem Interview vor Augen führen, dass er alle Personen gleich freundlich behandeln möchte, dass er Gruppenmitgliedschaften ignorieren möchte und so weiter.
Halten Sie den Vorschlag für sinnvoll, jegliche Informationen über Herkunft, Geschlecht oder Nationalität gar nicht erst in der Bewerbung zu vermerken?
In manchen Fällen kann das sinnvoll sein. Es gab einige Pilotunternehmen, die das testweise eingeführt haben. Bei der ersten Stufe des Bewerbungsverfahrens kann es helfen, dass Personen eine Chance bekommen. Eine Studie untersuchte, wie unterschiedlich der Erfolg von Frauen und Männern bei der Bewerbung in einem großen Sinfonieorchester war, wenn sie beim Vorspiel zu sehen waren oder nicht. Beim Sinfonieorchester kommt es ja eigentlich nicht darauf an, wie man beim Geige spielen aussieht, sondern wie gut man das tun. Die Chancen von Frauen, im Orchester zu spielen, stiegen deutlich an, wenn die Person hinter einem Wandschirm verborgen und damit auch das Geschlecht verborgen war. Das ist ein Hinweis darauf, dass Frauen vorher benachteiligt wurden. Wenn man in Bewerbungsverfahren die erste Hürde genommen hat, kommt danach aber typischerweise das Interview oder ein Assessment Center und dann lassen sich viele Sachen nicht mehr verbergen.
Bald erscheint ein Buch von Ihnen und Dr. Irena Ebert. Es heißt “Frauen – Männer – Karrieren”. Worum geht es da?
Wir haben alles, was wir aus der sozialpsychologischen Forschung und Theoriebildung wissen, auf das Thema Karrieren von Männern und Frauen bezogen. Zum Beispiel welche Faktoren es gibt, die diese Karrieren unterschiedlich beeinflussen.
Woher haben Sie die Motivation für das Buch genommen?
Bevor ich nach Landau gekommen bin, war ich Gleichstellungsbeauftragte der Universität Jena. Gleichstellungsbeauftragte gibt es auf allen Ebenen, ihre Aufgabe ist es, verschiedene Prozesse zu begleiten. Ich war sehr erschrocken darüber, dass es ganz viele Sachen gibt, die die Arbeitsgrundlage von einer Gleichstellungsarbeit bilden müssten, die aber die Gleichstellungsbeauftragen gar nicht wissen können, weil sie nicht ständig englische Zeitschriftenartikel aus der Psychologie lesen. Gleichzeitig ist es in der Wissenschaft so, dass es nicht viele Anreize gibt, Befunde nach außen zu tragen. Für uns ist es super, wenn ich Forschungsprojekte durchführe und in Fachartikeln publiziere. Ob man der Öffentlichkeit erklärt, was man herausgefunden hat, bleibt einem selbst überlassen. Das passiert in der Psychologie viel zu wenig. So entstand die Motivation, ein Buch zu schreiben, in dem jede Gleichstellungsbeauftragte und jeder Personalchef nachlesen könnte, was zu beachten ist. Etwa, wie man das Marketing für ein Informatik-Studium gestalten kann, damit Frauen sich dafür überhaupt interessieren.
Warum macht Ihnen ihr Forschungsgebiet so viel Spaß?
Zum einen ist es toll, dass wir in der psychologischen, labororientierten Forschung viele Faktoren kontrollieren können, wenn wir pfiffige Experimente machen. Wir können uns oft sicher sein, dass wir etwas Interessantes herausgefunden haben und darüber nicht spekulieren müssen. Gleichzeitig haben wir in der Sozialpsychologie ein Thema, das viel mit dem Leben und der alltäglichen Welt zu tun hat. Es ist eine sehr schöne Mischung aus Forschung und Implikationen, die man für die Praxis ableiten kann.
Interview: Katharina Greb