Was bedeutet Social Media für die politische Arbeit? Sascha Michel ist Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaft und führt aktuell eine Studie über das Twitter-Verhalten von Politikern durch. Darin äußern sich Spitzenpolitiker verschiedener Parteien über die Funktion von Twitter für den politischen Alltag, legen ihre Twittermotive offen und reflektieren kritisch die grundsätzliche Bedeutung dieses sozialen Mediums für die Politik.
Mit dem stellvertretenden Bundesvorsitzende der Piratenpartei, Sebastian Nerz, etwa sprach Michel über Transparenz, Öffentlichkeit und das Thema Inszenierung bei Twitter – und seinem Vorhaben, sich von der Plattform vorerst zurück zu ziehen.
Michel: Laut Twitonomy ist Ihre Twitterfrequenz von November 2012 bis Mai 2013 kontinuierlich gesunken. Welche Gründe gibt es für diese starke Abnahme?
Nerz: Twitter ist extrem zeitintensiv. Zum Einen ist bei mir in letzter Zeit beruflich und privat viel angefallen, weshalb ich wenig Freizeit hatte. Zum Anderen war der Umgangston in der Partei sehr harsch. Es gab viele interne Debatten. Twitter ist dabei ein Medium, das dazu neigt, Konflikte zu befeuern. 140 Zeichen sind wunderbar geeignet, um ein Statement so zu verkürzen, dass es der Gegenüber falsch versteht, aber nicht ausreichend, um eine Deeskalation zu bewirken, oder um Missverständnisse aufzuklären. Das heißt, wenn man in einer schwierigen Phase twittert, kann man einen Konflikt damit eigentlich nur befeuern.
Ihr letzter Tweet vom zweiten Mai diesen Jahres lautet „Bye“. Ist das so zu deuten, dass Sie sich aus der Twittersphere vollkommen verabschiedet haben?
Vollkommen möchte ich nicht sagen, aber bis auf weiteres. Ich möchte den Bundesparteitag noch abwarten, danach kann es sein, dass ich Twitter im Wahlkampf wieder stärker für die Kommunikation einsetzen werde, weil relativ viele Piraten Tweets lesen und man darüber ganz gut eine größere Gruppe erreichen kann, aber eigentlich habe ich es nicht geplant.
Viele Politiker nutzen Twitter lediglich als Möglichkeit, über ihre Arbeit zu informieren und sich so transparent zu präsentieren. Wäre das keine Option für Sie?
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Ich habe es einige Zeit lang so gemacht, dass ich ab und zu etwas getwittert, aber wenig reagiert habe, jedoch ist Twitter dann ein sinnloses Medium. Twitter lebt von dem schnellen Feedback, von der Interaktion, das war es, was es für mich interessant gemacht hat. Man konnte sehr schnell Feedback erhalten und geben, ein Tweet konnte mal kurz nebenbei geschrieben werden. Aber das ist eben auch das, was dann für Probleme sorgt. Nicht nur parteiintern, man sieht auch dass Journalisten beispielsweise Twitter extrem gerne zitieren, wenn es um personenbezogenen Streit geht, wenn man das Gefühl hat, hier ist ein kritischer Tweet. Inhaltliche Tweets jedoch, etwa inhaltliche Kritik an Regierungsvorhaben und Gesetze, oder eine tatsächliche Twitterdiskussion, werden dagegen kaum wahrgenommen.
Ist aber die „Flucht“ aus Twitter dann nicht ein Zeichen, dass Sie Auseinandersetzungen aus dem Weg gehen und parteiinternem Druck nicht öffentlich standhalten können?
Ich stehe jederzeit per E-Mail oder Telefon für eine Diskussion zur Verfügung. Bei Twitter findet kein Austausch von Argumenten statt, sondern eine massive Verkürzung. Zudem habe ich nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung und ich habe mich entschlossen, diese Zeit tatsächlich der Arbeit zu widmen, die ich als produktiv sehe: der Vorbereitung der Bundestagswahl, der Organisation der Pressearbeit usw. Auch wenn Twitter zur Selbstdarstellung gut geeignet ist, bringt es diese Arbeit nicht voran. Ich könnte mich sicher besser darstellen, ich könnte mich innerhalb der Partei weniger angreifbar machen, oder beliebter machen, aber die Arbeit, für dich ich eigentlich gewählt wurde, bringt es nicht voran und deshalb ist es nachrangig.
Somit ist Twitter auch nicht als Dialogmöglichkeit mit dem Bürger für Sie attraktiv?
Man kann über Twitter sehr schnell eine Frage stellen, aber es ist kaum möglich, tatsächlich zu antworten. Manche Fragen kann man mit ja oder nein oder mit wenigen Zeichen beantworten, aber sobald es um Abwägungsfragen geht, auf die man keine klare Antwort hat, also eine Grauzone betritt, lässt sich das mit 140 Zeichen nicht mehr darstellen. Ich kann natürlich mit einem Link antworten, aber auch da geht wieder der Sinn von Twitter eigentlich verloren und erfahrungsgemäß klicken auch viel weniger Leute auf diese Links. Wenn es nicht in die Tweets selbst passt, wird es kaum wahrgenommen.
Die Piratenpartei steht ja für Transparenz. Glauben Sie nicht, dass Ihre Entscheidung gerade das Gegenteil demonstriert und einen Schritt hinter die wesentlichen Ziele der Partei darstellt?
Nein, das würde ich absolut nicht so sehen. Mit Twitter kann man wunderbar Transparenz simulieren. Es gibt viele Politiker, die schreiben „Ich bin jetzt beim Schützenverein eingetroffen. Tolle Stimmung hier. Tolle Leute und ich freue mich über das Feedback“, das ist aber keine Transparenz. Wenn ich Transparenz herstellen möchte, muss ich erklären, warum ich politische Entscheidungen treffe, wie ich zu meiner Überzeugung gekommen bin, welche Überzeugung ich tatsächlich habe, welche Argumente mich dazu bewegt haben. Das finde ich auf Twitter aber nicht. Wenn ich tatsächlich Transparenz herstellen möchte, muss ich das auch so machen, dass es einfach durchsuchbar ist, dass es im Nachhinein auch aufbereitet werden kann. Das habe ich alles bei Twitter nicht gegeben. Twitter ist zu kurzlebig, um darüber Transparenz zu schaffen. Das heißt, ich kann Transparenz simulieren, ich kann sie aber nicht wirklich schaffen. Wenn es um Transparenz geht, würde ich jedem Politiker wirklich empfehlen, eine eigene Webseite zu haben, auf der die Argumente, die man hat, die Treffen, die man durchführt, die Geschenke, die man erhält, zentral gesammelt werden und zugänglich aufbereitet werden. Twitter ist aber kein Medium, das sich für Transparenz eignet.
Wenn Twitter für Sie zu zeitaufwändig ist, wieso lassen Sie nicht – ähnlich wie einige andere Politiker auch – Ihre Mitarbeiter für Sie twittern?
Auch hier habe ich das Problem, dass ich simuliere. Ich simuliere Kommunikationsmöglichkeiten, die tatsächlich nicht gegeben sind. Ich habe keinen wirklichen Kontakt zu dem Politiker hergestellt und bekomme auch nur sehr wenige Infos. Ich glaube nicht, dass man Twitter sinnvoll an ein Team auslagern kann. Ich habe es jedenfalls noch nie als sinnvoll erlebt.
Sie haben gesagt, dass Sie eventuell im Rahmen der Bundestagswahl wieder aktiver twittern werden. Ist Twitter für Sie also ein strategisches Wahlkampfinstrument?
Im Sinne von Wahlkampf-PR weniger, dafür twittert einfach ein zu kleiner Teil der Bevölkerung. Im Sinne, dass sehr viele, vor allem aktive Piraten twittern und über Twitter mit Infos versorgt werden können, kann es sinnvoll sein. Es wäre besser, wenn es andere Tools gebe, die entsprechend breit akzeptiert wären, aber das ist derzeit noch nicht der Fall.
Ist nicht gerade das Inszenierung, dass sie Twitter jetzt ruhen lassen und im Wahlkampf wieder aktivieren? Denken Sie nicht, dass die Menschen das durchschauen?
Mir ginge es ja nicht darum, Werbung zu twittern, sondern tatsächlich organisatorische Kommunikation zu betreiben. Ich twittere natürlich auch ein bisschen privat, eben weil sich das nicht immer hundert Prozent trennen lässt, aber ich würde prima als Ansprechpartner zur Verfügung stehen.
Wie bewerten Sie die öffentliche Personaldebatte der Piraten über Twitter im Nachhinein?
Das hat uns massiv geschadet. Um tatsächlich bewerten zu können, was in der Piratenpartei los war, hätte man sich extrem damit beschäftigen müssen. Wenn man nur Ausschnitte daraus gesehen hat, was medial dargestellt wurde oder was man in den einzelnen Twitteraccounts gelesen hat, dann kam es sehr viel zerstrittener rüber als es tatsächlich war. Das hat zu dem Bild, was von der Partei vorhanden ist, einfach nicht gepasst. Eine Partei muss sich geschlossener nach außen präsentieren, als wir es getan haben, da es sonst negativ interpretiert wird. Wenn man Diskussionen über Twitter führt, hat man sie sofort öffentlich, dann hat man sie sofort verkürzt, dann hat man die Problematik, dass es verschiedene Umgangsformen gibt, was zu Streit führt.
Welche Rolle spielt dabei die Öffentlichkeit?
Ich glaube, dass es für die öffentliche Diskussion nichts bringt, wenn man nachlesen kann, dass Person A Person B einen Idioten genannt hat. Man möchte inhaltliche Gründe nachvollziehen können, möchte vielleicht sehen, dass verschiedene Politiker einfach persönlich nicht miteinander zurecht kommen, aber was die sich konkret an den Kopf werfen, ob sie sich beleidigen oder nicht, das ist völlig ohne Belang.
Sie sind jetzt offenbar an dem Punkt der „Twitter-Ernüchterung“ und -Resignation angelangt. Wieso nutzen Sie die negativen Erfahrungen nicht für eine radikale Änderung Ihrer aktiven Twitternutzung?
Möchte ich ein Medium einfach zur Selbstinszenierung nutzen, oder möchte ich es tatsächlich kommunikativ nutzen? Ich glaube, dass die Politik daran krankt, dass es zu viel Selbstinszenierung gibt und zu wenig ernste Kommunikation. Wenn ich ein Medium nicht nutzen kann, um darüber als Mensch zu kommunizieren, sondern ich mich auch da die ganze Zeit verstellen muss, in jedem Moment der Politiker sein muss, der hier schreibt, und nicht der Mensch sein darf, wieso sollte ich dieses Medium dann nutzen? Tatsächliche Vorteile habe ich davon wenige, die Reichweite von Twitter ist relativ begrenzt, für die innerparteiliche Organisation und Kommunikation gibt es effizientere Methoden, ob das Telefon, e-Mails oder Mailinglisten sind, für die Öffentlichkeit ist es jedoch nur wieder eine Inszenierung. Eine solche Inszenierung bringt niemandem etwas.
Glauben Sie nicht, dass sich Politiker bis zu einem gewissen Grad inszenieren müssen, um erfolgreich zu sein?
Bis zu einem gewissen Grad ja, aber ich glaube nicht, dass wir dieses Spiel noch weiter treiben müssen. Es gibt bereits genug Inszenierungskanäle, man muss nicht immer neue erfinden.
Wäre es für Sie nicht attraktiv, Tweets strategisch so zu posten, dass sie von den Printmedien als Schlagzeile aufgegriffen werden können?
Jein. Twitter ist ein Medium, das sich meiner eigenen Kontrollierbarkeit völlig entzieht, Ich kann natürlich einen Tweet absetzen und hoffen, dass er von den Printmedien aufgegriffen wird, genauso wie ich früher eine Pressemitteilung herausgegeben hätte. Dann habe ich aber keine Möglichkeit, die Interpretation in irgendeiner Form zu steuern oder selber zu diesem Kontext beizutragen. Das meiste, was aufgegriffen wird, sind Tweets, die tatsächlich einen Diskurs oder Streit darstellen, die sich in irgendeiner Form im Tonfall vergreifen. Was an inhaltlich wertvollem getwittert wird, wird eigentlich nie aufgegriffen. Ich habe keine Bedürfnisse danach, eine Personendebatte oder einen Streit medial zu inszenieren.
Was war Ihre anfängliche Motivation zu twittern?
Es haben relativ viele Piraten Twitter genutzt und ich habe festgestellt, dass man über Mailinglisten und andere öffentliche Kanäle nicht alles mitbekommen kann. Ich wollte einfach darüber informiert sein, was passiert. Ich finde es privat weiterhin ein sehr interessantes Medium, da es Diskurse und Informationsverbreitung anregt, man bekommt mit, was in der Welt los ist, was die Menschen bewegt, sehr viel mehr als über normale Medienkanäle. Man muss nur als Politiker die ganze Zeit wissen, dass das, was man schreibt, eigentlich durch die PR-Agenturen gehen müsste. Das macht es für mich als Politiker uninteressant. Als Mensch finde ich es weiterhin faszinierend und fand es schon 2009 toll.
Über welche internen politischen Abläufe und Strukturen twittern Sie/nicht?
Ich glaube, es ist eine gute Regel zu sagen: Was ich nicht der BILD und meinem Nachbar sagen würde, das twittere ich nicht. Wenn ich nicht bereit bin, mit der ersten Person, die ich auf der Straße treffe, darüber zu reden, dann hat es auf Twitter nichts zu suchen.
Wie reagieren Sie auf Fakeaccounts und beleidigende Tweets?
Ein gut gemachter Fakeaccount ist wie eine gut gemachte Satire, ist eigentlich ein Kompliment, weil es zeigt, dass jemand wichtig genug ist, dass man sich damit beschäftigt. Es kann durchaus unterhaltsam sein, ich habe meine Fakeaccounts immer gerne gelesen, wenn sie nicht ins Vulgäre abgerutscht sind.
Wenn mich jemand über Twitter beleidigt, blocke ich diese Person.
Wie gehen Sie mit Shitstorms bei Twitter um?
Wenn es ein richtiger Shitstorm ist, kann man nicht sofort reagieren. Man muss abwarten, bis er sich gelegt hat und dann versuchen, eine längere Erklärung abzugeben. Jedoch kann diese Erklärung erneut Reaktionen provozieren.
Welchen Stellenwert hat Twitter für die Politik allgemein?
Das ist eine gute Frage. Ich hätte Ihnen noch vor zwei Jahren gesagt, dass Twitter die politische Kommunikation verändert, weil es sie direkter macht, weil es Möglichkeit bietet, dass man unmittelbares Feedback bekommen kann, völlig ungefiltert. Das Problem ist, dass dies nicht passieren wird, wenn Twitter weiterhin so medial aufgegriffen wird wie bisher. Wenn Tweets aus dem Kontext genommen und veröffentlicht werden, wenn Twitter vor allem auf Katastrophen hin untersucht wird, dann verliert Twitter jeden politischen Mehrwert. Der Politiker kann sich nur selbst inszenieren und nicht mehr auf Feedback reagieren.
Wie muss sich Twitter in Zukunft verändern?
Ich glaube nicht, dass Twitter sich verändern muss, sondern dass die Reaktion der Menschen auf Twitter eine andere sein muss. Die Menschen und Medien müssen lernen, mit dem Mehr an Öffentlichkeit umzugehen und akzeptieren, dass man Mensch ist.
Raten Sie anderen Politikern zu twittern?
Wenn man sich bewusst ist, dass man sich öffentlich äußert, dass alles, was man schreibt, diesen Anforderungen genügen muss, dass man also zu keinem Zeitpunkt der Mensch sein darf und zu jedem Zeitpunkt der berechnende Politiker sein muss, der seine Tweets nur aus PR-Gesichtspunkten betrachtet, dann ist Twitter ein interessantes Werkzeug.