Uni-Menschen

Outside the box

Weit entfernt von Schubladendenken: Dr. Martin Lilkendey. Foto: Laura Fee Hildebrand

Weit entfernt von Schubladendenken: Dr. Martin Lilkendey. Foto: Laura Fee Hildebrand

Dr. Martin Lilkendey ist eine Person, bei der Schubladendenken keine Chance hat. Ihn als Fotografen, Künstler, Sportlehrer oder Filmemacher zu beschreiben, wird dem bunten Potpourri seiner Interessen und Wegmarken nicht gerecht. Im Interview gewährt der Dozent für Künstlerische Praxis und Fachdidaktik einen Einblick in seinen spannenden Lebenslauf.  

Ihr Lebenslauf ist sehr bunt. Woher kommt die Lust am Ausprobieren?

Ich glaube, das ist einfach Teil meiner Biografie. Ich habe mich schon immer für ganz viele unterschiedliche Dinge interessiert und dem gehe ich einfach nach. Ich bin so lange mit etwas beschäftigt, bis ich es verstanden oder mir angeeignet habe.

Ihr Berufsleben haben Sie sowohl in der Wirtschaft als auch in der Wissenschaft verbracht? Ihre Erkenntnis daraus?

Beides zusammengenommen hat mir ein breites Feld an Möglichkeiten eröffnet, um mich in verschiedene Richtungen auszuprobieren. Für mich ist es immer ein Vorteil, auch mal andere Dinge gesehen und erlebt zu haben. Je mehr Erfahrungen man gemacht hat und je breiter gefächert diese Erfahrungen sind, desto besser. Aber das muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich denke es gibt auch Menschen, die sich lieber auf eine Sache konzentrieren und damit für sich die richtige Entscheidung treffen. Ich könnte mir vorstellen, dass es bei einem Arzt gut ist, wenn er sich nur auf eine Sache konzentriert und nicht nebenbei anfängt, Videos zu drehen (lacht). Prinzipiell ist jedoch in meinen Augen die Arbeit an der Universität deutlich angenehmer als in der freien Wirtschaft. An der Universität hat man mehr Raum zum Ausprobieren und kann den Dingen eine Chance geben. Dadurch bekommen die Arbeitsergebnisse eine andere Qualität.

Hatten Sie während Ihrer Schulzeit einen festen Berufswunsch? Was waren Ihre Lieblingsfächer in der Schule?

Als ich noch zur Schule ging, wollte ich entweder Comiczeichner oder Designer werden. Vermutlich, weil das damals schick war. Die künstlerische Richtung hat mir schon früh am meisten entsprochen. Kunst war eines meiner Lieblingsfächer, Sport fand ich auch gut. Damit, dass ich mal Sportlehrer werden würde, hätte ich allerdings nicht gerechnet.

Bundeswehr – Kunst und Philosophie – Sport: Ein Widerspruch oder wechselseitige Bereicherung?

Bundeswehr und Philosophie? Das ist tatsächlich ein Widerspruch. Philosophie steht schließlich auch für eine Art kultiviertes Grübeln über die Dinge. Bei der Bundeswehr geht es vor allem darum, schnell konkrete Befehle auszuführen. Wenn man da erst ins Grübeln käme, wäre das nicht sehr sinnvoll. Aber da die Welt fast nur aus Widersprüchen besteht und solche Kontraste ja meist das Spannendste sind, war auch dieser Widerspruch eine Art Bereicherung für mich. Sport und Bundeswehr befruchten sich da schon eher wechselseitig. Aber an der Sporthochschule Köln gab es auch Dozenten, die sich mit Kunst und Sport beschäftigt haben. Ästhetik im sportlichen Bereich ist auch eine Dimension der künstlerischen Praxis. Insofern gab es da auch Bezugspunkte zu meinem Kunststudium.

Gibt es einen bestimmten Einfluss in Ihrem Leben, der ihre Arbeit mitprägt?

Das Interesse am Menschen als Wesen an sich und die Hinwendung zu diesem ist wohl der stärkste Einfluss. In all meinen Arbeiten taucht immer wieder der Mensch als Thema, Motiv und Figur im Bild auf. Ich fotografiere und zeichne so gut wie nie Landschaften. Es gibt ein ganz altes Skizzenbuch von mir, da sind, glaube ich, vier Landschaftszeichnungen drin und die restlichen 300 Seiten bestehen nur aus Zeichnungen von Menschen. Auch Maschinen interessieren mich nur insoweit, als dass ich sie menschlich beeinflussen kann. Indem ich sie zum Beispiel auseinandernehme und wieder zusammensetze. Technik wird für mich nur als Erweiterung des menschlichen Körpers im Sinne von McLuhan interessant. Das Ziel ist es, den Menschen zum Zentrum meiner Arbeit zu machen. Deshalb bin ich Lehrer geworden.

Sie haben eine zeitlang als Producer für den Musiksender VIVA gearbeitet. Wie kamen Sie dazu?

Das hat sich einfach so ergeben. Wenn man in Kölner Kneipen unterwegs ist, dann trifft man immer Menschen, die etwas mit Medien zu tun haben. So war das bei mir auch. Ich habe jemanden kennengelernt, der bei VIVA angestellt war, und nachdem er ein paar meiner Arbeiten gesehen hatte, schlug er vor, mich seinem Chef vorzustellen. Es war nicht unbedingt mein Ziel, bei VIVA zu arbeiten, aber als sich die Gelegenheit bot, habe ich sie gerne genutzt. Vor allem hat mich damals die Möglichkeit interessiert, Filme zu machen, die sonst nicht im Fernsehen zu sehen sind. Die Trailer, die bei MTV Anfang der 80er-Jahre liefen, waren sehr künstlerisch gestaltet. Als ich das gesehen habe, dachte ich: Das wäre doch auch mal eine gute Variante, um Bilder herzustellen.

“Wenn man manche gefragt hat, warum sie dort arbeiten, war die Antwort: Weil ich hier jede Woche fünf CDs umsonst bekomme. Heute unvorstellbar.”
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Martin Lilkendey über seine Zeit beim Musiksender VIVA

Wie war Ihre Arbeit für VIVA?

Ich weiß nicht, ob man sich das heute noch so gut vorstellen kann. VIVA hat ja mittlerweile einen ganz anderen Stellenwert als in den 90er-Jahren. Damals war der Sender das Pendant zu den angesagtesten YouTubern heute. Wenn man dort gearbeitet hat, war das so cool, wie wenn man heutzutage Julien Bam wäre. Entsprechend cool war auch das komplette Umfeld. Das bestand nur aus ehemaligen Studenten und Leuten, die aus der Kreativbranche kamen. Wenn man in das Gebäude am Media Park in Köln rein ging, saß da Nazan Eckes als Empfangsdame. Dass irgendwelche Superstars gerade im Gebäude waren, erkannte man daran, dass der Eingang von mehreren Hundert Teenies belagert wurde. Als Mitarbeiter durfte man dann mit seinem Ausweis durchgehen, das war schon cool. Wenn man anschließend in einen der Aufzüge gestiegen ist, konnte es passieren, dass man zusammen mit Destiny’s Child in die nächste Etage fährt.

Jede Redaktion war mit ganz unterschiedlichen und außergewöhnlichen Leuten besetzt und es herrschte jedes Mal ein totales Chaos. Und so haben die Leute auch gearbeitet: Sehr improvisiert und sehr kreativ. Kaum ein Mitarbeiter war älter als 30, da haben also hauptsächlich Menschen Fernsehen gemacht, die das zuvor noch nie gemacht hatten, und so kamen ganz viele neue Ideen zustande. Noch heute versucht das ZDF bei Live-Übertragungen, die bewegte Kamera von VIVA nachzumachen. Das Unternehmen an sich war vielleicht kommerziell, aber die Leute, die dort gearbeitet haben, waren es nicht. Wenn man manche gefragt hat, warum sie dort arbeiten, war die Antwort: Weil ich hier jede Woche fünf CDs umsonst bekomme. Heute unvorstellbar, aber alles in allem war es eine echt gute Zeit.

Sie haben sich auch wissenschaftlich mit Musikvideos beschäftigt. Kann man noch ein Lieblingsmusikvideo haben, wenn man sich so intensiv mit diesem Genre auseinandersetzt?

In erster Linie bin ich ja Praktiker, dann erst Wissenschaftler. Das Letztere ergibt sich vielmehr aus dem Ersteren. Als jemand, der sich selbst praktisch mit dem Genre auseinandersetzt, habe ich mir die Freude daran beibehalten. Lieblingsmusikvideos habe ich also einige.

Und welche?

Einige der größten Musikvideoregisseure sind für mich Spike Jonze und Chris Cunningham. Unter ihren Arbeiten könnte ich jetzt keinen Favoriten benennen. Die lustigsten Musikvideos sind von Spike Jonze und die gruseligsten von Chris Cunningham. Das ist schon ganz großes Kino – in Kleinformat eben.

Mit Ihrer Foto-Serie Where Are We Going haben Sie geflüchtete Menschen porträtiert. Wie kam es zu dieser Initiative?

Das war eine Eigeninitiative. 2014 tauchten in den Medien immer mehr Bilder von Geflüchteten auf und mir wurde bewusst, dass diese Bilder aus Fernsehen und Printmedien vor allem einschüchternd wirkten. Aus ihnen bewegte sich eine anonyme Masse auf den Betrachter zu. Diese beängstigende Perspektive entspricht nicht den einzelnen Charakteren der Menschen, die gezwungen sind, hierher zu flüchten. Mit der Foto-Serie Where Are We Going habe ich versucht, dieses Bild, das in den Medien so dominierend war, aufzubrechen. Eben dadurch, dass man nicht die Situation zeigt, um die es geht, sondern das Individuum in den Mittelpunkt rückt. Indem sich die Menschen bewusst und stolz der Kamera und dem Betrachter präsentieren konnten, sind Bilder von Geflüchteten entstanden, die ganz anders sind als die Bilder, die man aus den Medien kennt. Das war die Grundidee: Den Geflüchteten die Chance geben, sich so zu präsentieren, wie sie sich selbst sehen. Damit die Menschen hier merken: Das ist ein Mensch wie ich, dem ich in die Augen sehen kann und der keine Bedrohung für mich ist. Ich glaube, diese Botschaft kam an. Während der Plakataktion in Köln wurde kein einziges Plakat beschmiert oder runtergerissen.

Welchen Herausforderungen sind sie bei diesem Projekt begegnet?

Da die Thematik zu dieser Zeit medial noch nicht so im Fokus stand, hatte ich keine Probleme, Zugang zu einer Flüchtlingseinrichtung zu erhalten. Dabei haben mir das Deutsche Rote Kreuz und die Stadt Köln geholfen. Allerdings musste ich jedem Einzelnen das Projekt erklären und einen Vertrag mit ihm abschließen. Einige der Menschen aus den Ost-Balkan-Ländern konnten nicht lesen und schreiben und sprachen auch kein Englisch. Daher habe ich mit einem Übersetzer zusammengearbeitet, der meine Ausführungen übersetzt hat. Alleine hätte ich das niemals geschafft. Ansonsten waren die Leute sehr nett und meiner Idee gegenüber aufgeschlossen.

Was reizt Sie insbesondere am Medium Fotografie?

Da kann ich nur Roland Barthes zitieren: Fotografie ist die „Wiederkehr des Toten“. Sie ist die einzige Möglichkeit, etwas aus einem Moment zu entnehmen und als vermeintlich objektives Bild über die Zeit hinweg zu konservieren. In einen Status der Ewigkeit überzugehen, das geht mit der Fotografie. Und das funktioniert eben nur bei der Fotografie, weil jeder Mensch ein Foto für sachlich richtig hält. Ob ein Foto wirklich objektiv ist, ist eine andere Frage. Entscheidend ist, dass jeder glaubt, es sei objektiv. Das ist ein Gefühl, das immer mitschwingt. Zeichnung ist etwas Indirektes, Interpretatives. Fotografie ist direkt und trägt ein Gefühl von Wahrheit mit sich. Hinzu kommt, dass man gleich eine ganz andere Haltung einnimmt, wenn man weiß, dass man fotografiert wird. Man präsentiert sich und trifft damit eine Aussage. Es gibt also so etwas wie eine Mittäterschaft des Porträtierten. Das finde ich sehr spannend.

Sie haben an der Universität noch andere Projekte ins Rollen gebracht, zum Beispiel das Fotoprojekt Koblenz Analog. Wie hat die Universität Koblenz-Landau Ihr Wirken beeinflusst?

Als ich das Fotolabor hier übernahm, habe ich das als Chance gesehen, an der Universität mit der analogen Fotografie zu arbeiten. Auch aus dem Bewusstsein heraus, dass die momentane Generation gar nicht mehr damit aufwächst und nicht weiß, wie das ist, in ein Rotlichtlabor zu gehen und zu sehen, wie sich Silber entwickelt. Die Arbeit mit einem analogen Fotolabor ist vor allem eine Chance, ein Medium zu nutzen, das unheimlich viel Platz für Experimente liefert. Die Universität bietet Raum für die Beschäftigung mit solchen Konzepten wie der analogen Fotografie und daraus können konkrete Projekte erwachsen, wie im Fall von Koblenz Analog. Dabei haben natürlich auch die Studierenden mit ihren analogen Fotografien dazu beigetragen, eine Mappe zu erstellen, die mittlerweile bereits zum sechsten Mal erschienen ist.

Was bedeutet für Sie die Arbeit mit Studierenden?

Hier an der Universität Koblenz-Landau erlaubt mir das Modulhandbuch mit den Studierenden in Werkstätten so zu arbeiten, dass man sich in kleinen Gruppen zusammen finden und auch auf individuelle Fragestellungen eingehen kann. Aus dieser Arbeit, die oft auch experimentellen Charakter hat, ergeben sich viele Ideen, die sich wiederum auf andere Seminare auswirken. Auch die Beteiligung verschiedener Studiengänge ist da sehr bereichernd. Die Studierenden kommen aus der Kunst- oder Kulturwissenschaft, aus der Computervisualistik oder der Grundschulbildung und immer findet ein Austausch statt. So kommt unterschiedliches Fachwissen zusammen und formt neue Gedanken und Konzepte. Aus der Zusammenarbeit mit den Studierenden, der Fachschaft, den verschiedenen Instituten und dem Studierendenwerk haben sich schon viele lohnenswerte Projekte entwickelt.

Studierende werden häufig mit Berufsängsten konfrontiert. Wie sind Sie mit solchen Ängsten umgegangen?

Ich weiß gar nicht, ob ich diese Ängste jemals hatte. Meine Eltern hatten die. Ich glaube ich konnte sie damit beruhigen, dass ich Lehramt studiert habe. Diese Option bestand und ich habe sie wahrgenommen. Aber nicht als Notlösung, sondern weil ich das eben auch bin: Lehrer. Ich bin verschiedene Personen. Das habe ich immer versucht zu respektieren und auszuleben. Mein Ratschlag an die Studierenden ist, nicht zu viel nachzudenken, sondern mehr auf sein Gefühl zu vertrauen. Je intuitiver man entscheidet, desto richtiger ist am Ende die Entscheidung, die man trifft. Das Studium bietet einem dabei vor allem die Chance, sich selbst besser kennenzulernen. Wenn man sich irgendwann auf eine Stelle bewirbt und eine Absage erhält oder andere negative Erfahrungen macht, dann haben auch die ihre Berechtigung. Man sollte das eher als Möglichkeit sehen, etwas anderes zu machen. Alles, was ich in meinem Leben gemacht oder nicht gemacht habe, hat mich hierher geführt. Insofern hat das immer etwas Positives. Hätte ich damals einen besseren Abiturschnitt gehabt, hätte ich Design in Münster studiert. Da ich warten musste, habe ich festgestellt, dass Kunst viel mehr das war, was ich machen wollte. Daran sieht man, dass auch das Negative im Leben seine positiven Funktionen haben kann.

Gibt es noch etwas, dass Sie unbedingt mal machen wollen?

Nein, ich muss nicht mehr zum Mond fliegen. Als ich 20 war, habe ich mal gesagt, dass ich einmal in meinem Leben in New York ausstellen, ein Buch schreiben und einen Kinofilm machen will. Aber irgendwie brauche ich das nicht. Ich habe ja viele kleine Filme gemacht, habe Bücher geschrieben und einige interessante Ausstellungen hatte ich ebenfalls, wenn auch nicht in New York. Momentan will ich einfach nur weiter machen wie bisher. Für mich ist das ein gutes Ziel.

Interview: Natalie Henzgen

Zur Person
Dr. Martin Lilkendey arbeitete nach seinem Studium der Kunst und Philosophie an der Universität Siegen und dem Sportstudium an der DSHS Köln im Jahr 2007 zunächst als Studienrat für Kunst und Sport am Werner Heisenberg Gymnasium in Neuwied. Im Jahr 2008 nahm er seine Tätigkeit als Akademischer Rat für Künstlerische Praxis und Didaktik am Institut für Kunstwissenschaft der Universität Koblenz-Landau auf. Neben seiner Lehre am Campus Koblenz forscht er seitdem zu den Themen Geschichte des Musikvideos, Porträtfotografie und Analoge Fotografie in Lehre und Schule. Zuvor war er unter anderem als Junior Art Director für die Werbeagentur Alphatype in Bremerhaven sowie als freier Producer in der Station Promotion VIVA Media AG tätig.