Erinnerungskultur ist wichtig. Das können wir im Zuge der deutschen Geschichte des Nationalsozialismus stetig aufs Neue beobachten. Doch auch in anderen Regionen dieser Welt hat Erinnerungskultur eine große Bedeutung. 2019 hat Kiaro Hinz als Student an der Summer School “Cultures and Politics of Remembrance” des Instituts für Kulturwissenschaft teilgenommen. Als Teil einer Forschungsgruppe verbrachte er neun Tage nahe Rolândia, einem Ort in Brasilien, der eine spannenden Geschichte hat. Ein beeindruckender Bericht von einer beeindruckenden Reise.
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Rolândia – der Name des Ortes klingt wie Musik. Tatsächlich verbirgt sich hinter Rolândia ein brasilianische Ortschaft, in der es eine lange Geschichte deutscher und japanischer Immigration gibt. Die Bevölkerung besteht aus Menschen mit sehr unterschiedlichen ethnischen Hintergründen. Man konnte allerdings noch nicht genau feststellen, welche Anteile einen Migrationshintergrund haben und seit wann sie sich in der Region befinden. Grund genug für eine Forschungsgruppe des Koblenzer Instituts für Kulturwissenschaft im Rahmen der Summer School Cultures and Politics of Remembrance nach Brasilien zu reisen mehr über die Geschichte der Region herauszufinden. Die Auseinandersetzung mit Studierenden und Lehrenden der Universidade Estadual de Londrina (UEL) und Einwohnern vor Ort sollte helfen, Erinnerungspraktiken besser zu verstehen. Einer der Forschungsteilnehmer war KuWi-Student Kiaro Hinz. “Ich habe mich riesig gefreut, nach Brasilien zu reisen. Ich kannte Brasilien vorher schon, es ist ein wunderschönes Land,” erzählt. Seine Erwartungen wurden nicht enttäuscht. “Zum einen war es eine tolle Erfahrung, dieses Klima und diese Landschaften wahrnehmen zu können, zum anderen war es einfach schön, die Menschen vor Ort kennenzulernen.”
Das deutsche Team der Forschungsgruppe wurde von Professorin Dr. Ina Kerner und Professor Dr. Andreas Ackermann geleitet und war in Londrina untergebracht. Die Universitätsstadt im Bundesstaat Paraná befindet sich etwa 20 Kilometer westlich von Rolândia. Der Aufenthalt teilte sich in einen theoretischen und einen praktischen Teil. Die ersten drei Tage verbrachte die Gruppe an der UEL. Im Rahmen von Vorträgen und Diskussionen zur Geschichts- und Erinnerungspolitik konnten die Teilnehmenden Vergleiche anstellen. Sie beleuchteten, wie sich Brasilien und Deutschland unterscheiden, was die jeweils vorherrschenden Erinnerungspraktiken angeht. “Der Fokus lag dabei eher auf der deutschen Geschichte, vor allem auf dem deutschen Kolonialismus, der dort stattgefunden hat, und dem Nationalsozialismus”, berichtet Hinz. “Wir haben Erfahrungen dazu ausgetauscht, wie jeweils mit Vergangenheit und Ungerechtigkeiten in der Vergangenheit umgegangen wird. Wir haben uns darüber verständigt, was in Brasilien und Deutschland diesbezüglich ähnlich ist und wo es Unterschiede gibt.”
Ein Ort des Erinnerns
Der praktische Teil der Reise fand als Feldforschung in Rolândia statt. Die dortige Bevölkerung besteht zum Teil aus Deutschen, die seit den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts eingewandert sind. Über die deutsche Immigration nach Brasilien weiß man, dass es Mitte des 19. Jahrhunderts eine besonders starke Einwanderungswelle aus dem Hunsrück gab. Auf Grund von Missernten, Arbeitslosigkeit und Kälte verließ ein Teil der dortigen ländlichen Bevölkerung seine Heimat. Während des Nationalsozialismus flohen auch viele jüdische Menschen nach Brasilien. Nazis sind ebenfalls in südamerikanische Länder migriert, vermutlich mit dem Auftrag, dem Nationalsozialismus dort Nährboden zu verschaffen oder um nach Kriegsende einer Verfolgung zu entkommen. Die Auswirkungen der Immigrationen aus Deutschland sind vor Ort bis heute spürbar – zum Beispiel gibt es einige Gruppen, die ihren plattdeutschen Dialekt bewahren.
Eine Station der Forschungsreisenden war die Fazenda Bimini. Die Farm wurde in den 1930ern von der jüdischen Familie Kirchheim errichtet, die aus Deutschland immigriert war. Ihre Nachfahren betreiben die Farm heute agrarforstwirtschaftlich. Außerdem finden dort kulturelle und künstlerische Bildungs- und Erinnerungsprojekte statt.
Im Rahmen ihrer Forschung setzten sich die Studierenden mit Fragen zu Migration und Identität auseinander: Welchen – womöglich nicht immer unproblematischen – Einfluss hat die Einwanderungsgeschichte der Region auf lokale Identitätsbildungprozesse? Hat die Bevölkerung mittlerweile eine Art deutsch-brasilianische Identität entwickelt?
“Nachdem die theoretischen Grundlagen gelegt waren, haben wir uns im praktischen Teil zunächst mit der Geschichte Rolândias beschäftigt. Wir waren zum Beispiel vor Ort in einem Museum, das sich mit der lokalen Geschichte beschäftigt.” In einem anderen Museum fand eine Diskussion über den Umgang mit Objekten, die eine koloniale Herkunft haben, statt. Allerdings taucht die indigene Bevölkerung, die aus der Region vertrieben wurde, in den geschichtlichen Darstellungen dieses Museums nicht auf. “Professorin Kerner und Professor Ackermann hatten all das vorher schon erkundet und uns darauf eingestimmt, was wir vorfinden würden.” Mittlerweile wird die Diskussion über das Fehlen indigener Geschichte im Museum und an anderen Stellen offen geführt. Die Thematik erfährt mehr Beachtung. Bei der Museumsführung lag der Fokus insbesondere auf genau diesem Thema. “Wir sind nicht mit der Absicht nach Brasilien gekommen, lediglich Zuschauer zu sein , aber auch nicht unbedingt, um etwas in eine bestimmte Richtung zu verändern oder anzutreiben,” erklärt Hinz. “Dennoch sind einige Dinge in Bewegung gekommen und wir sind ein Teil davon. Wir wollten von dieser langen Geschichte unterschiedlichster Migrationsbewegungen einen Eindruck erhalten. Deshalb haben wir uns während dieser Feldforschung nicht nur die Stadt und ihre Museen angesehen, sondern auch den deutschen Friedhof besucht. Wir haben auch mit einigen deutschen Familien gesprochen, um ihre Geschichten zu hören und ihre historischen Artefakte, wie etwa alte Bilder, zu erkunden.”
Bleibende Eindrücke
Während seines Aufenthalts wurde Hinz klar, dass Erinnerungs- und Geschichtspolitik zusammengehören. Oft werde ein Bogen von der individuellen Identität zur kollektiven geschlagen. Dabei bestehe die Gefahr, dass solche Identitätsnarrative von unterschiedlichen Seiten politisch vereinnahmt werden. “Heute versuchen gerade nationalistische Bewegungen zu definieren, wer wir sind – als Nation und als Individuum. Das wird problematisch, weil solche Identitätsangebote immer den Schatten sichtbar machen, den historische Ereignisse bis in die Gegenwart werfen. Positiv oder negativ – die meisten Vorstellungen von nationaler Identität sind entscheidend vorgeprägt,” betont Hinz. “Heute denken wir an ein ‘neues Deutschland’ nach dem zweiten Weltkrieg und eine ‘geglückten Aufarbeitung’ der beiden totalitären Regime, die es hier gegeben hat. Solche Begriffe prägen heute noch das Selbstverständnis der deutschen Politik und haben eine große Reichweite. Erinnerungskultur spielt bei uns also eine große Rolle.” In Brasilien wähle man zum Teil ganz andere Wege, mit der Vergangenheit umzugehen. Man versuche zum Beispiel eher, mit dem Zurückliegenden abzuschließen. Eine juristische Verfolgung von Verbrechen, die im Namen der dortigen Militärdiktatur begangen wurden, ist nicht möglich. Entsprechend werde mit Erinnerung an das Regime, das zwischen 1964 und 1985 bestand, ganz anders umgegangen.
Neben der eigentlichen Forschung haben auch zwischenmenschliche Kontakte bei Hinz Eindruck hinterlassen: “Das gilt insbesondere für den Kontakt mit den brasilianischen Studierenden und Dozierenden. Man hat gemerkt, dass die Studierendenschaft dort stärker politisiert ist als bei uns. Das ergibt sich aus den gegebenen Umständen durch die jetzige Regierung und die Militärdiktatur vorher.”
Die Reise ist noch nicht vorbei
Hinz hat viele freundschaftliche Kontakte knüpfen können. Auch forschungsbezogen steht er weiterhin mit brasilianischen Studierenden in Kontakt. Er hofft, dass dieser noch lange aufrechterhalten bleibt und viele Früchte tragen wird. An solchen Projekten teilzunehmen, findet er für Studierende der Kulturwissenschaft sehr wichtig. So könne man die theoretischen Inhalte aus der Uni nach außen transportieren. “Wenn man sich immer nur im Kontext der Uni bewegt, bleibt man auf vorgeebneten Wegen. Der Kontakt mit ausländischen Studierenden hat das Potenzial, einem etwas ganz Neues aufzuzeigen und beizubringen.” Die Koblenzer Kulturwissenschaftler wie auch ihre brasilianischen Kollegen möchten das Projekt fortführen. Kiaro Hinz kann sich sogar vorstellen, in Zukunft in Londrina weiterzustudieren.
Anna-Lena Hauch