Begriffe beschreiben nicht nur unsere Lebenwirklichkeit, sondern wandeln ihre Bedeutung im Lauf der Geschichte und geben Auskunft über unser kulturelles Selbstverständnis. Prof. Dr. Christian Geulen vom Institut für Geschichte am Campus Koblenz befasst sich in dem Forschungsprojekt “Semantische Transformationen im 20. Jahrhundert” mit dem Wandel historisch-politischer Leitideen zwischen 1900 und 1989.
Die Serie
Was gibt es Neues in der Wissenschaft? Wir stellen Personen und Projekte vor, die im Dienst der Universität Koblenz-Landau die Forschung voranbringen.
Wenn sich neue Begriffe bilden, ist das sowohl Ausdruck eines kulturellen und politischen Bedeutungswandels als auch ein Indikator für eine geschichtlich prägende und innovative Situation, weiß Professor Christian Geulen. Seit einigen Jahren forscht er zur Geschichte historischer Begriffe wie dem Konzept der Rasse und des Rassismus. Gemeinsam mit vier Doktoranden untersucht der Leiter des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsprojektes, wie sich in den Diskursfeldern Rationalisierung, Ästhetisierung, Medialisierung und Technisierung ein Bedeutungswandel in der politisch-sozialen Sprache vollzog. Diese vier Schlüsselbegriffe sind von besonderer Bedeutung, da sie sich im 20. Jahrhundert in je verschiedenen Phasen zu echten Leitideen entwickelt hätten, berichtet Geulen. “Ästhetisierung etwa wurde zu einer Leitidee, da sich vor allem in der Zwischenkriegszeit die Vorstellung herausbildete, Politik könne nur durch ihre ästhetisch-künstlerische Aufladung wahrhaft handlungsmächtig werden”. Auch mit Hinblick auf die Idee der Rationalisierung ließen sich ab 1900 ganz neue Techniken beobachten, wie beispielsweise das moderne Management, das zu neuen Begriffen und Bedeutungen im wirtschaftlichen wie politischen Denken führte.
Das Besondere an den Leitideen des 20. Jahrhunderts ist, dass sie einen grundlegenden Strukturwandel der politisch-sozialen Sprache markieren. “Es gehört zu den Merkmalen der Moderne im 20. Jahrhundert, dass sich Grundbegriffe der politischen Sprache zu Prozessbegriffen umprägen”, erklärt der Forschungsleiter. “Viele Diskurse in diesem Jahrhundert markieren einen rasanten Kulturwandel und unterstellen diesem, etwa im Bereich der Technik oder der Medien, zugleich eine kalkulierbare Dynamik.” Beispielshaft dafür ist laut Geulen unter anderem die Vereinheitlichung der Medien durch audiovisuelle, später digitale Elektronik, welche die Vorstellung einer gesamtgesellschaftlichen Medialisierung der politischen Kultur nach sich zog.
Technisierung der Gesellschaft
Promotionsstudent Dennis Neuer widmet sich unter anderem in einem Teilprojekt der Studie dem Feld der Technisierung. Dafür untersucht er verschiedene lexikalische Quellen, wie Propagandamaterial, Zeitschriften, Fachliteratur sowie den Wissenschaftsdiskurs um die Jahrhundertmitte, wo sich ein Transformationsprozess beobachten lässt: “Bis zum 19. Jahrhundert wird Technik lediglich als Mittel zur Naturbeherrschung verstanden. Diese Vorstellung bricht an der Schwelle zum 20. Jahrhundert auf. Technik wird nun als zweite Natur konzipiert, die wir zwar selber geschaffen haben, der wir uns aber auch selbst unterwerfen müssen.
In den 1950er Jahren wurde diese Prozesslogik der Technisierung forciert und auf die Spitze getrieben: Durch neue Informationstechnologien wie dem Computer wurde Technik zunehmend als System von Regel- und Selbststeuerungsmechanismen verstanden: “Das Interessante daran ist, dass diese Steuerungs- und Regelkreislogik immer stärker auf gesellschaftliche Prozesse übertragen wurde und die Gesellschaft somit selbst als ein technischer Regelkreislauf behandelt wurde”, erläutert der Historiker weiter.
Neue Leitbegriffe in der Gegenwart
Die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts haben die Forscher ganz bewusst nicht mit in ihre Untersuchung einbezogen. “Für viele Historiker endet das 20. Jahrhundert mit dem Mauerfall und dem Ende des Kalten Krieges oder sogar schon vorher. Danach beginnt eine andere Zeitrechnung, in der Schlüsselbegriffe des 20. Jahrhunderts immer noch eine Rolle spielen, aber auf eine ganz andere Weise. Angesichts der vielen neuen politischen Problemlagen scheint die Gesellschaft seither nach neuen Schlüsselbegriffen zu fahnden. Das bedarf einer eigenen Untersuchung.”
Sandra Erber