In der Kolumne schreiben unsere Campus-Reporter, allesamt Studierende in Koblenz und Landau, unplugged aus ihrem Alltag. Heute wundert sich Natalie Henzgen über die Kuriositäten des Einzelhandels und seiner Kunden.
Samstagnachmittag, 14 Uhr. Wie konnte ich nur so leichtfertig sein? Vor mir: Eine Batterie von Einkaufswagen. Wo: In der Konservenabteilung des Supermarkts. Ich: Inmitten einer Meute von Hausfrauen, Rentnern und Teenagern. Was tue ich? Mich fragen, warum ich es für eine gute Idee gehalten habe, meinen Einkauf genau jetzt zu erledigen. Ich müsste es wirklich besser wissen. Seit meinem sechzehnten Lebensjahr arbeite ich neben Schule und Studium in Supermärkten und weiß genau, wann es dort besuchertechnisch eskaliert.
Unterhaltung zumindest, als wäre es eine Entschädigung, bekomme ich reichlich geboten: Ein Kind lässt andächtig Backpulverpäckchen aus dem Regal regnen, während seine Mutter versucht, den älteren Bruder daran zu hindern, den Inhalt einer Mehlpackung zu verzehren. Ich sehe eine Kundin, wie sie versucht, aus dem untersten Karton eines Warenaufstellers ein Glas Bohnen herauszufischen. Man muss kein Statiker sein, um das Risiko des fragwürdigen Manövers zu erkennen. Die Frau lässt sich nicht von dem bedrohlich schwankenden Gläserturm aus der Ruhe bringen. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck legt sie die Bohnen nach einem Blick auf das Verfallsdatum in ihren Einkaufswagen. Statt in zehn Jahren laufen die Bohnen erst in fünfzehn Jahren ab. Gott sei Dank. Der ältere Mann zu meiner Linken fragt mit einem entgeisterten Blick auf seinen Einkaufszettel eine Angestellte, was seine Frau denn mit „geschälten Tomaten“ meinen könne. Wer soll ihm hier Tomaten schälen und wieso überhaupt?
Der Kunde ist König
Die goldene Regel des Einzelhandels: Der Kunde ist König. Zuweilen kann dieser König auch zum Tyrann werden. Damit habe ich im Lauf der Jahre meine Erfahrungen gemacht. Kunden halten uns Mitarbeiter entweder für allwissend oder für geistig beschränkt. Einige finden es durchaus plausibel, dass mir der Preis jedes einzelnen Artikels im Supermarkt-Universum bekannt ist. Das Vertrauen in meine fachlichen Kompetenzen muss bei einem Sortiment von über 10.000 Produkten sehr groß sein. An anderen Tagen werde ich schulmeisterlich belehrt, dass die Balsamico-Creme unmöglich bei Essig und Öl zu finden sein könne, wenn es sich dabei doch ganz klar um eine Fertigsoße handele und diese somit gemäß dem gesunden Menschenverstand neben dem Ketchup stehen sollte. Und oft genug bin ich bei der Arbeit Menschen begegnet, die auf das Grab ihrer Mutter schwörten, dass die Milch ganz sicher im Angebot wäre – bevor sie merkten, dass ihr eigens zur Beweisführung mitgebrachter Angebotsprospekt von einer anderen Supermarktkette stammt.
Manchmal verstecken Kunden auch kleine Aufmerksamkeiten in den Regalen. Da findet man noch halbwarme Fleischkäsebrötchen zwischen den Tomatendosen oder einen Fisch von der Frischetheke, der sich hinter den Shampooflaschen versteckt und bereits beginnt, den Plastikbeutel zu zersetzen. Bei solchen Fundstücken wird mir bewusst, wie verschwenderisch Menschen sein können und wie leichtfertig wir in Deutschland den Luxus des Überflusses genießen: Denn werden frische Lebensmittel nicht gekühlt oder Packungen im Supermarkt achtlos aufgerissen, ist deren Inhalt zu einem Ende im Müllcontainer verdammt.
Einkauf auf Leben und Tod
Plötzlich werde ich von einem ohrenbetäubenden Alarm aus meinen Gedanken gerissen. Eine Bandansage erklärt, man solle den Laden aufgrund eines Brandes umgehend verlassen. Während die Sirene lärmt und ich mich zum Ausgang bewege, sehe ich, wie Kunden in aller Ruhe ihren Einkauf auf das Kassenband legen. Dass die Belegschaft den Supermarkt bereits verlassen hat, scheint sie nicht im Geringsten zu irritieren. Als schließlich auch die hartnäckigsten Kunden dazu bewegt werden konnten, ihre Einkäufe zurückzulassen, und eine Menschentraube sich zusammen mit den vier Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr auf dem Parkplatz drängt, spricht mich eine Frau an: „Ist der Markt offen? Kann man einkaufen gehen?“ Ich dachte, der Einzelhandel könnte mich mit Nichts mehr sprachlos machen. Falsch gedacht.