Eine Wohnung in einer Universitätsstadt zu finden, ist nicht leicht. Einen neuen Mitbewohner auch nicht. An Bewerbern mangelt es weder in Landau noch in Koblenz. Doch wie wählt man aus? Und kann man nach einem kurzen Bewerbergespräch eine Person überhaupt richtig einschätzen? Diese Fragen stellen sich Wohngemeinschaften und laden Bewerber zu Castings ein, bei denen sie auf Herz und Nieren geprüft werden. Zwei UniBlog-Reporterinnen saßen mit am Küchentisch.
*Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.
# Landau
Der Kaffee wartet schon auf dem Tisch. Die Wohnung ist aufgeräumt und geputzt. „So sauber war es hier schon lange nicht mehr“, sagt Susanne und lacht. „Wir sollten öfter WG-Castings machen.“ Von den vier Bewohnern der hellen Wohnung sind nur zwei anwesend: Susanne und Paul. Susannes Zimmer wird frei, weil sie ihr Studium abgeschlossen hat. Paul, weiß jetzt schon, dass er in einem halben Jahr aus Landau wegziehen wird. Corinna, die andere Mitbewohnerin, macht gerade ein Praktikum und Jana ist noch unterwegs und kommt etwas später.
Es ist alles vorbereitet, als es klingelt und der erste Bewerber des Tages in der Tür steht. Gekleidet ist er ganz leger. Jeans, Pulli, Turnschuhe. Unter seiner Kapuze blitzen blaue Augen. Stefan ist ein ruhiger Typ. Aber nicht schüchtern. Einer, der sagt, was er denkt, und meint, was er sagt. Er erzählt offen über alles, wonach er gefragt wird. Von seiner Arbeit als Koch, die schwierigen Lehrjahre, von seinem letzten Job. Von der Abgeschiedenheit eines Hotels in den Bergen, wo man außer Snowboarden nicht viel machen kann. Und dass es ihn nun zurück in die Zivilisation zieht. Dass er gern schreibt, momentan an drei Romanen gleichzeitig. Das Gespräch fließt. Bewohner und Bewerber spielen sich die Bälle zu, plaudern, machen Scherze.
Der schmale Grad zwischen Schein und Sein
Unerwartet lenkt Stefan das Gespräch auf seine Familienverhältnisse. Ein Einblick in einen den intimsten Bereiche des Menschen. Alle merken: Das ist wichtig, was der gerade erzählt. Für Stefan ist es wichtig, aber auch für das spätere Zusammenleben in der WG. Stille tritt ein, als Stefan verstummt. Alle starren auf ihre Kaffeetassen, als ob sie dort einen einfühlsamen Rat für den Fremden entdecken könnten. Aber niemand findet anderes als ein stummes Nicken.
„Wann kommt denn Jana?“, fragt Paul endlich. Susanne blickt schnell auf ihr Smartphone. „In 10 Minuten müsste sie da sein.“ Die kommenden Minuten vergehen langsam, das Gespräch stockt. Eigentlich ist alles gesagt. Aber Jana soll den Bewerber noch zu Gesicht bekommen – und auch Stefan soll sie kennen lernen. Als Jana endlich eintrifft, die Wangen ganz rot, löst sich plötzlich die Spannung. Eine zweite, stark gekürzte Version des Lebenslaufs wird noch einmal zum Besten gegeben. Das Thema Familie wird nicht mehr angesprochen.
Dann steht Stefan auf, schüttelt Hände und ist weg. Zurück bleiben drei aufgekratzte WG-Bewohner, die kaum an sich halten können, über ihre Eindrücke zu berichten. „Der sah ja gut aus!“, platzt es aus Susanne heraus, kurz nachdem sich die Haustür geschlossen hat. Alle lachen befreit, als hätten sie das schon viel zu lange zurückgehalten. Später entschuldigt sie sich für den Kommentar. Das sei sehr oberflächlich gewesen. „Man hat ja in Bewerbungsgesprächen gar keine andere Chance, als oberflächlich zu sein“, nimmt sie Paul in Schutz.
Ein WG-Casting ist im Grunde ein Verkaufsgespräch für die eigene Person. Die Bewerber wollen sich gut darstellen, aber gleichzeitig auch ehrlich sein. Ähnlich verhält es sich mit der WG und ihren Bewohnern. Sie putzt und räumt auf, aber will auch realistisch an die ganze Sache herangehen. Es ist ein schmaler Grad zwischen Schein und Sein, zwischen der Selbstpräsentation und der Andeutung des Wohnalltags. Jana und Paul zeigen den Bewerbern auch die eigenen Zimmer. Ein Einblick, der normalerweise nur Freunden oder guten Bekannten gestattet ist. Dinge, wie das momentane Schimmelproblem, das die Vermieterin seit ein paar Monaten vor sich herschiebt, werden nicht tot geschwiegen, sondern angesprochen und den Bewerbern erklärt – auch wenn das unangenehm ist.
“Ich will ja nicht jammern, aber ihr habt gefragt.”
Es klingelt erneut. Marian steht in der Wohnung. Mit strahlendem Gesicht lobt er die Einrichtung, die Helligkeit der Wohnung und deren Lage. Die zweite Kanne Kaffee des Tages wird auf den Tisch gestellt. Marian streicht sich immer wieder die braunen Locken aus dem runden Gesicht. Er redet viel, manchmal ein wenig zusammenhangslos. Immer wieder berichtet er über seine schlechten Erfahrungen mit der Mietlage in Landau.
Eigentlich hatte er schon ein Zimmer. Allerdings kamen immer skurrilere Nebenkostenabrechnungen für das ohnehin schon überteuerte Zimmer. Die Mieter der Hauses – allesamt Studenten – haben nun zusammen die Kündigung eingereicht. Der Wohnungsmarkt ist den WG-Bewohnern bekannt. Auch Susanne berichtet von schlechten Erfahrungen, von Rohbauten ohne Heizung, von Wuchermieten und mysteriösen Firmen aus Frankreich mit Schweizer Bankverbindungen.
Marian hatte eigentlich schon ein anderes WG-Zimmer gefunden, doch zwei Tage vor Einzug entschied der Vormieter, doch dort wohnen zu bleiben. So blieb der 23-Jährige vorübergehend bei seinen Eltern und pendelt. „Ich will ja nicht jammern“, betont Marian mehrmals, „aber ihr habt gefragt.“ Schon jetzt entwickelt sich seine Aussage zum Running Gag. Die Vier stellen sich vor, wie sie in ein paar Jahren bei einem Glas Wein diese alte Kamelle wieder auspacken. Lachen, scherzen, als würden sie sich seit Jahren kennen und nicht erst seit einer knappen Stunde.
Irgendwann stellen die Bewohner Marian die Nummer eins des WG-Fragenkatalogs: „Willst du sonst noch irgendwas über uns wissen?“ Marian überlegt kurz. „Wollt ihr denn noch irgendwas über mich wissen?“ Ratlose Blicke fliegen noch durch die Küche, da erzählt Marian schon von seiner großen Leidenschaft, dem Kochen. Schmunzeln in den Gesichtern der Bewohner. Marian kann ja nicht ahnen, dass erst vor einer Stunde ein professioneller Koch auf seinem Platz saß.
Die Qual der Wahl
Nachdem Marian zum nächsten WG-Casting verschwunden ist, beginnt die Diskussion erneut. „Was ist denn dieses Mal nur los? Lauter normale, nette Menschen!“ Susanne berichtet von der letzten Mitbewohnersuche, bei der es fast nur seltsame Gestalten gegeben hatte, die entweder gar nichts gesagt oder Selbstgespräche geführt hätten. „Dem einen haben wir noch nicht einmal Kaffee angeboten. Den wollten wir nur schnell wieder aus der Wohnung haben.“
In den nächsten Tagen werden noch einige Bewerber kommen. Die WG hat die Wohnungsanzeige ins Internet gestellt, innerhalb von zwei Tagen erhielt sie über 50 Anfragen. Mit den ersten sechs hat Susanne Termine ausgemacht. „Das kann man sonst nicht mehr überblicken“, erklärt sie. Die drei Bewohner sitzen noch lange zusammen und reden. Wer hat Chancen, mit wem kann man sich ein Zusammenleben vorstellen? Die Wahl ist ihnen wichtig. Es geht schließlich um das eigene Zuhause.
Rosa Stecher
# Koblenz
Es ist Samstagvormittag, kurz vor elf. Eine Wohngemeinschaft in der Koblenzer Altstadt rüstet sich für den Bewerber-Marathon. Die Lage der Wohnung ist begehrt, mitten in der Koblenzer Altstadt, umgeben von beliebten Studentenkneipen. 16 Leute haben sich auf die ungewöhnliche Wohnungsanzeige der WG auf der beliebten Wohnungsbörse Wg-gesucht.de gemeldet. Darin beschreiben sie die drei wichtigsten Regeln der WG in Analogie zum Film „Fight Club“ (1999):
1. Regel im Fight Club: Wer einschläft, wird angemalt.
2. Regel im Fight Club: Schere, Stein, Papier entscheidet.
3. Regel im Fight Club: Kickern zu Null gibt Kiste.
„Die Fight-Club Regeln haben schon zu vielen witzigen Geschichten in unserem WG-Leben beigetragen“, erzählt Julian. „Max musste zum Beispiel mal eine ganze Woche lang jeden Tag die Küche aufräumen, nur weil er immer bei Stein-Schere-Papier verliert“. „Dafür wird Mikal immer angemalt!“ ruft Max, lacht und zeigt auf ein Foto im Flur, auf dem der angemalte Mikal schlafend auf dem Sofa liegt.
Es ist ein bisschen hektisch. Zwei der vier WG-Bewohner sind noch schnell etwas einkaufen gegangen. Anne, eine Freundin der WG-Bewohner, steht noch unter der Dusche, Max und Julian frühstücken in der Küche. Die Waschmaschine läuft, auf der Fensterbank stehen unzählige Bierflaschen. Auch das Sofa hat schon bessere Tage gesehen. Die Bewohner planen ihren Abend. Am Vortag haben sie schon zwei Bewerbern die Wohnung gezeigt.
Das Casting der Altstadt-WG ist kein klassisches, bei dem die Truppe um den Küchentisch versammelt die Vita der Bewerber bespricht und sie auf WG-Tauglichkeit prüft: Kannst du kochen? Wie oft muss deiner Meinung das Bad geputzt werden? Hast du Haustiere? Spielst du ein Instrument? Interessiert alles nicht. Es wird gekickert und Dart gespielt. Die Zimmer stehen offen, befreundete Studenten der WG kommen und gehen. Die Bewerber finden sich in einem chaotischen Treiben wieder. So haben die Bewohner das vorher geplant. Sie wollen die Bewerber auf die Probe stellen und sehen, wie gut sie sich in die Gemeinschaft einfügen. Und wie sie auf fremde Menschen reagieren.
Toleranz und Anpassungsfähigkeit sind gefragt
Die WG hat ihren eigenen, speziellen Fragenkatalog entwickelt. Stört dich das Rauchen? Stört es dich, wenn hier viele Leute zu Besuch kommen? Gehst du oft Feiern? Wenn ja, wohin? Diese Fragen bekommt jeder gestellt. Man muss ja schließlich wissen, worauf man sich einlässt. Schüchterne Personen haben es nicht leicht. Bewerberin Katrin kommt kaum zu Wort und verhält sich zurückhaltend. Eine halbe Stunde nach ihrem Besuch schickt sie eine SMS: „Drei Gründe, warum ich euer WG-Zimmer bekommen sollte: Ich kann unglaublich gute Brownies backen, räume gern auf und bin ein absoluter Star Wars-Fan.“
Die Bewerber lassen sich viel einfallen, um aus der Masse heraus zu stechen. Allerdings erzielt das nicht immer den gewünschten Effekt. Bei einem haben alle das Gefühl, er denkt sich die Geschichten nur aus, um interessant und lustig zu wirken. Während eines Kicker-Turniers erzählt er, dass er umsonst Festival-Tickets besorgen kann und alle Türsteher der Stadt kennt. Und sowieso ist er mit den wichtigsten Menschen befreundet. Michael, ein zierlicher Mann mit dünnem Haar und auffälliger Brille, holt gerade an einer Koblenzer Schule sein Abitur nach. Obwohl er sagt, dass es ihm nichts ausmacht, viel zu feiern und wenig zu schlafen, wird er aussortiert. Er muss früh zur Schule, hat schon ein Kind. „Das passt nicht zu unserem momentanen Lebensstil“, sagt Mikal. „Auch wenn er nett ist, wir würden uns ständig in die Quere kommen“, stimmt Max zu. Gar nicht so leicht, den Anforderungen der WG zu genügen: Er oder Sie sollte Student/in sein, etwas für eine längere Zeit suchen und gern feiern. Fähigkeiten zum Kicker und Dart spielen sind auch erwünscht. Man sollte das Rauchen tolerieren und mit Lärm umgehen können.
Die Auswahl ist groß, aber nicht leicht
Es geht weiter. Bewerberin Julia hat Ärger mit ihrer Mitbewohnerin und dem Vermieter. Paul kommt aus Lateinamerika, ist erst seit einem halben Jahr in Deutschland und zieht wegen eines Uni-Wechsels nach Koblenz. Star Wars-Fan Katrin wohnt schon zu lange in einem Studentenwohnheim und muss Platz für jüngere Semester machen. Anne möchte endlich bei ihren Eltern ausziehen und sich den weiten Fahrweg jeden Morgen zu Uni ersparen. Die WG hört viele Geschichten an diesem Samstag.
Vier der angekündigten 16 Bewerber erscheinen nicht. Zwei kommen zu spät. Bei vielen merken die Bewohner schon nach wenigen Minuten, dass es nicht passt. „Bianca war unser Favorit! Die hätten wir sofort einziehen lassen“, sagt Julian. „Aber sie hat uns abgesagt.“ Am Ende bleiben noch zwei Bewerber übrig. Jetzt kann die WG nur hoffen, dass die nicht schon woanders den Zuschlag für ein Zimmer bekommen haben.
Lisa Dillenberger