Die Protestbewegung Ende der 1960er-Jahre prägte die Welt: In den USA und vielen anderen Ländern gingen junge Menschen für eine gerechtere Gesellschaft auf die Straße. Doch wie sah es zu dieser Zeit im Koblenzer Raum aus? Waren die Menschen auch hier Teil der Revolte? Dr. Andreas Linsenmann hat sich mit Studierenden aus Koblenz und Mainz in einem Projektseminar auf Spurensuche begeben.
“Das Jahr 1968 steht für einen der großen historischen Umbrüche”, weiß Dr. Andreas Linsenmann vom Institut für Geschichte. In den Vereinigten Staaten nahm die Jugenrevolte und Protestbewegung ihren Anfang und hinterließ auf der ganzen Welt ihre Spuren, in Westdeutschland vor allem in Großstädten wie Frankfurt und Berlin. Vor etwa einem Jahr stellte sich der Historiker Linsenmann die Frage, was zu jener Zeit in Koblenz passierte. Bei der Recherche stieß er auf etwas Forschungsliteratur zu Rheinland-Pfalz. “Aber zu Koblenz gab es praktisch nichts”, erinnert er sich. Im Rahmen des Projektseminars “Das lange 1968 in der Region” ging Linsenmann der Historie deshalb empirisch auf den Grund. Tobias Fey ist einer der Studierenden, die sich für das Thema ebenso begeistern können wie ihr Dozent: “Ich finde es interessant, große Weltereignisse mit der Region zu verknüpfen”, erzählt Fey. “Es gibt die provokante These, dass in Rheinland-Pfalz die 68er-Revolution ausgefallen wäre.” Linsenmann weiß jedoch: “Hier gab es keine prominenten Figuren wie Rudi Dutschke, aber die Region hat 1968 definitiv nicht verschlafen.”
Die Spurensuche
Das Projektseminar findet sowohl an der Universität Koblenz-Landau als auch an der Universität Mainz statt. Im Rahmen des Kooperationsprojekts begann die Spurensuche für alle Beteiligten zunächst in den Archiven. „1968 gab es noch kein Stadtarchiv. Also sind wir in das Archiv der Rhein-Zeitung gegangen“, erzählt Linsenmann. Die Koblenzer Studierenden und ihr Dozent schauten tagelang große Zeitungsbände durch. “Es gab Tage, an denen wir 100 Seiten durchsuchten und nichts fanden”, sagt Linsenmann. “Aber das gehört zum Forschungsprozess dazu.“
Zusätzlich suchten die Koblenzer mit den Studierenden aus Mainz das Archiv der dortigen Universität auf und sprachen mit Zeitzeugen aus der Region Koblenz. “Es ist etwas anderes, ob man die Dinge in Büchern liest oder jemand sie erzählt, der dabei war.” So deckten die Studierenden Diskrepanzen in den Erzählungen und Berichten auf. “Wir befragten zum Beispiel eine Demonstrantin und einen Polizist. Beide tauschten sich über das gewaltsame Eingreifen der Polizei auf einer Demonstration aus. In dem RZ-Artikel aus dem Archiv stand dagegen geschrieben, es sei alles ruhig gewesen”, erinnert sich Geschichtsstudent Fey. “Es geht in solchen Projekten auch darum, Geschehnisse aus verschiedenen Blickwinkeln kritisch zu hinterfragen”, fasst Linsenmann zusammen. Auch ihn haben die Menschen beeindruckt, die er bei der Recherche getroffen hat, “denn sie haben es gewagt, gesellschaftliche Verkrustungen abzuschütteln und Denkhorizonte zu öffnen.”
Unterstützung aus Koblenz für die Revolte
Die Zeit der späten 1960er und der frühen 1970er-Jahre war geprägt von dem Bestreben, alte Strukturen aufzubrechen. “Da wurde ein Generationenkonflikt ausgefochten”, sagt Linsenmann. Die Themen, auf die die Gruppe um Linsenmann bei ihrer Recherche stieß, waren vielfältig: Von der Bürgerrechtsbewegung in den USA und dem Vietnamkrieg als internationale Krisen bis zur Frauenbewegung, Bildungsreform, Notstandsgesetzgebung und dem Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland. Der Konflikt hallte auch in Koblenz wider. “Es gab hier nur vereinzelte Demonstrationen. Doch die Koblenzer Jugend beteiligte sich andernorts – und bekam Unterstützung: ein Autohaus stellte für die Fahrten einen VW-Bulli zur Verfügung”, erzählt Fey. In einer Druckerei in Lahnstein wurden außerdem Flugblätter gedruckt, die deutschlandweit verteilt wurden und in Koblenzer Kneipen diskutierte man die Themen der Bewegung.
“Diese Zeit hat bis heute die Faszination, dass die Welt veränderbar ist“, verdeutlicht Linsenmann. Auch für den Studierenden Fey steht fest: “Punkte, die damals schon relevant waren, sind es auch heute noch. Aus Geschichte kann man lernen. Die Bewegung macht Mut für die Zukunft, denn diese ist gestaltbar.”
Aktuell bereiten die Projektteilnehmer die Präsentation ihrer Arbeitsergebnisse vor. Zu sehen sind sie am Tag der Lehre, dem Tag der Landesgeschichte am 17. November auf der Festung Ehrenbreitstein und im Blog des Stadtarchivs Koblenz. Die Erfahrungen mit dem konkreten Forschungsgegenstand sollen die Studierenden auch auf die spätere Berufspraxis übertragen können. Fey studiert auf Lehramt und will den Geschichtsunterricht über die Theorie hinaus lebendig machen. Denn das ist es, was er in dem Projekt gelernt hat: “Bei dem Zeitzeugen-Gespräch wurde bis zum Ende niemand unruhig – das ist doch das größte Kompliment für den Dozenten”, lobt er.
Lisa Engemann