Die Vorlesung zuhause ansehen und dann mit dem Dozenten die Übungsaufgaben lösen? Klingt nach verkehrter Welt. Der “Flipped Classroom” stellt das Konzept des Frontalunterrichts tatsächlich auf den Kopf. Dr. Robert Rockenfeller findet: Sowohl Studierende als auch der Dozent profitieren von den Sitzungen, in denen intensiv zusammen gearbeitet wird. Er lehrt am Mathematischen Institut und experimentiert in seiner Vorlesung mit dem Konzept.
Was verstehen Sie unter einem Flipped Classroom?
Es ist die Umkehrung des klassischen Lehrkonzepts: Weg vom lehrerzentrierten Unterrichten und schülerzentrierten Üben, hin zum schülerzentrierten Lernen und begleitetem Üben. Dies gilt für Schule und Universität, ich könnte also statt Schüler auch Studierende sagen.
Was heißt das konkret?
Normalerweise bekommen die Studierenden nach der Vorlesung Übungsblätter, die sie dann zu Hause bearbeiten sollen. Beim Flipped Classroom schauen sich die Studierenden vor der Veranstaltung ein Video der Lehrinhalte an. Ich gebe den Rahmen vor, welches Video in welcher Woche geschaut werden soll. Es zeigt die Vorlesung, wie ich sie auch im Hörsaal halten würde. In der eigentlichen Sitzung mache ich dann mit den Studierenen die Übungsaufgaben.
Der Ansatz des „Umgekehrten Klassenraums“ ist vor allem durch Jürgen Handke und Christian Spannagel bekannt geworden. Haben Sie ein bestimmtes Konzept übernommen?
Ausgangspunkt war für mich eine Frage, die ich mir als Dozent stellte: Wie kriege ich die Leute dazu, mitzuarbeiten? Orientiert habe ich mich dabei vor allem an Christian Spannagel aus der Mathematik. Seine Videos brachten mich auf meine eigenen Ideen zur Umsetzung.
Wie genau haben Sie die Ideen umgesetzt?
Unsere Serie Studium & Lehre gibt Antworten und Hilfestellungen rund ums Studium und stellt besondere Projekte vor.
Ich habe Bachelorarbeiten zu dem Thema betreut und in diesem Rahmen meine Vorlesung als Flipped Classroom gehalten. Produziert und gefilmt hat Philipp Müller, der eine Bachelorarbeit zur technischen Umsetzung geschrieben hat. Anschließend habe ich eine Bachelorarbeit vergeben, die meine Praxis mit den Konzepten in der Literatur vergleicht und bei den Studierenden evaluiert. Der Effekt des Flipped Classrooms war, dass weniger Leute kamen, was aber letztendlich meinem Ziel entsprach, weil so nur die kamen, die mitarbeiten wollten. Bei denen, die da waren, kam das neue Konzept sehr gut an und auch mir hat es mehr Spaß gemacht. Ein Kritikpunkt der Studierenden war, dass sie gefühlt zu viel arbeiten mussten. Aber die Zeit, die die Vorlesung nun beanspruchte, überschritt nicht den vorgegebenen Rahmen. So habe ich sie sozusagen zum Selbststudium gezwungen. Gleichzeitig war es immer noch freiwillig, denn ich halte nichts von Anwesenheitspflicht.
Hat der Flipped Classroom auch Nachteile?
Der Nachteil ist: Man hat einen hohen initialen Arbeitsaufwand. Erstmal braucht man ein Vorlesungskonzept. Ich hatte meine Vorlesung übernommen und bereits zweimal gehalten. Ein noch nicht erprobtes Vorlesungskonzept in einen Flipped Classroom umzusetzen würde ich nicht empfehlen, weil die Studierenden in den Videos dem roten Faden folgen können müssen. Philipp Müller und ich haben im letzten Sommer die ganzen Semesterferien mit der Produktion verbracht, vor allem die technische Umsetzung hat uns beschäftigt. Mittlerweile gibt es vom Institut für Wissensmedien zum Glück ein Paket mit allem, was man an Technik braucht.
Gibt es noch andere Möglichkeiten der Umsetzung?
Ich habe mich einfach vor die Kamera gestellt und mithilfe von Smartboard und Mikrofon meine Vorlesung als Videocast aufgenommen. Mein Kollege Dr. Andreas Osterroth aus der Germanistik in Landau macht hingegen einen Screencast: Hier sieht man in dem Video die Präsentationsfolien der Vorlesung und hört seine Stimme dazu. Welche Methode man anschaulicher findet, obliegt dem persönlichen Geschmack.
Welche Vorteile hat der Flipped Classroom?
Der große Vorteil ist, dass man es individuell gestalten kann: Man kann mit Comics arbeiten oder sich vor einen Greenscreen stellen und eine Animation laufen lassen. Die Biologen könnten zum Beispiel virtuell durch den Urwald gehen – es gibt viele Möglichkeiten. Wenn man den Arbeitsaufwand der Videoproduktion einmal gemacht hat, ist die Vorlesung nicht mehr so zeitintensiv. Die Gestaltung der Sitzungen bleibt offen, weil sie von den Fragen der Studierenden abhängt. Ich finde das schön, denn ich erfahre die Lehre viel direkter aus der Perspektive der Studierenden. Dafür muss man aber auch der Typ sein.
Sind Flipped Classrooms die Lehre der Zukunft?
Mir persönlich gab diese Lehrform die passende Antwort auf die Frage, wie ich die Leute zum mitarbeiten kriege. Es hat also für mich sehr gut funktioniert, sollte aber nicht generalisiert werden. Es wird immer gesagt, man solle eine Methodenvielfalt anwenden. In meinem eigenen Lehramtsstudium habe ich keine Vielfalt kennengelernt, sondern nur Frontalunterricht. Man sollte die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Leute sich auch selbst etwas beibringen können und man sie dann beim Vertiefen unterstützt. Gerade in der Mathematik ist es aber manchmal auch angemessen, frontal mit Tafel und Kreide zu arbeiten. Beides hat seine Daseinsberechtigung. Es kommt außerdem auf den Dozenten an: Manche nehmen die Leute frontal super mit und manche bekommen vorne keinen richtigen Satz raus, blühen aber hinter der Kamera richtig auf. Ich finde es im 21. Jahrhundert angemessen, die Möglichkeiten von digitalen Medien aufzuzeigen – man kann so viel damit machen.
Das Interview führte Lisa Engemann