Kolumne
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Vom Fliegenlernen im Winter

Für unsere Autorin hat sich das Gefühl von Weihnachten über die Jahre verändert. Wie genau, erzählt sie in der Kolumne. Foto: Kira auf der Heide

Für unsere Autorin hat sich das Gefühl von Weihnachten über die Jahre verändert. Wie genau, erzählt sie in der Kolumne. Foto: Kira auf der Heide

Was bedeutet Weihnachten? Für einige ist es die wichtigste Zeit des Jahres, für andere wiederum bedeutungslos. So oder so kommt man um die Weihnachtszeit schlecht herum – selbst in einem Jahr wie 2020, in dem nichts läuft wie gewohnt, ist sie in der Öffentlichkeit allgegenwärtig. Wie es sich anfühlt, wenn das vertraute Weihnachtsgefühl innerhalb der Familie zum Wandel gezwungen wird.

Klischees verklären das Gedächtnis, aber meistens beinhalten sie auch ein Fünkchen Wahrheit. In meiner Erinnerung jedenfalls sieht die Vorweihnachtszeit so aus: Auf der Suche nach Geschenken laufen in dicke Jacken und bunte Schals gepackte Menschen durch die mit Lichterketten und Ornamenten verzierten Innenstädte. Die Morgendämmerung gibt der Abenddämmerung irgendwann nachmittags die Hand, das Licht bleibt deshalb rund um die Uhr blass. Glockenspiele und Kirchenlieder sind für ein paar Wochen nicht ganz so nervig wie sonst, weil sie ein bisschen nach Geborgenheit klingen. Draußen riecht es nach klirrender, eisblauer Kälte, die bei jedem Atemzug kurz in der Nase sticht; drinnen nach Heizungsluft, Zimt und Kerzenrauch. Ich habe inzwischen in vier Städten in vier Bundesländern die Vorweihnachtszeit erlebt, überall in Deutschland waren die Szenen ähnlich. Als folgte alles Jahr für Jahr einer Mischung aus geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen.

In meinem Innern sieht es anders aus: Dort hat sich Weihnachten über die Zeit verändert. Ich bin privilegiert aufgewachsen. In meiner Familie gab es kaum bedeutende finanzielle oder zwischenmenschliche Schwierigkeiten. Geschenke waren deshalb an Weihnachten lange das Wichtigste. Wie hätten Familie und Besonnenheit auch wichtiger sein können, als ich Familie sowieso permanent um mich hatte und Stress etwas Diffus-Negatives war, das nur Erwachsene betrifft?

Beruhigungsmittel Kindheitsgefühl

In der Kolumne schreiben Studierende in Koblenz und Landau unplugged aus ihrem Alltag.

Wie viele Studierende habe ich nach dem Abitur meine Heimatstadt für das Studium verlassen. In vielerlei Hinsicht war das die ultimative Befreiung. Unabhängigkeit von den Eltern und neue soziale Kontakte, die die Kleinstadtdramen der Schulzeit endlich so nichtig erscheinen ließen, wie sie in Wirklichkeit waren. So befreiend dieser Schritt in mein eigenes Leben war, so sehr hat er das Weihnachtsgefühl verwandelt. Familie war plötzlich überall, nur nicht mehr da, wo ich war. Und sobald ich Studium, Jobs, Haushalt und Sozialleben selbst jonglieren musste, ließ sich Stress trotz Yoga nicht ganz vermeiden. In den ersten Jahren nach meinem Wegzug entwickelten sich die Feiertage so zu einer Zeit, in der der rasende Puls des Erwachsenwerdens für ein paar Tage vom Beruhigungsmittel Kindheitsgefühl ausgebremst wurde.

Ich hatte den Ernst des Lebens zwar kennengelernt, aber an Weihnachten saß er nur stumm in der Ecke. Wenn sich an Heiligabend die Hektik der Vorbereitungen in kleineren oder größeren Streitereien entlud und später meine Eltern, Geschwister und Großeltern bei Karpfen und Kartoffelsalat zusammen am Tisch saßen, war bis auf die vegane Fischalternative auf meinem Teller alles wie früher. Am späten Abend trafen meine Schwester und ich in der Stadt auch die selbst gewählte Familie aus Freundinnen und Freunden, die wir für das Studium zurückgelassen hatten. Die Feiertage waren meistens vorbei, bevor ich mich aus diesem Trancezustand zurück in mein neues, eigenes Leben wünschen konnte.

Scheidungskind mit 24

Inzwischen habe ich nicht ein oder zwei, sondern fünf solcher Heimkehrweihnachten erlebt. Aus neu wurde irgendwann unbemerkt normal. Weihnachten bedeutet jetzt genau das: Heimkehr. Obwohl die Wohnung, in der ich aufgewachsen bin und 21 Jahre lang jedes Weihnachten verbracht habe, nicht mehr existiert. Obwohl Stühle, auf denen an Heiligabend Großeltern saßen, irgendwann einfach leer geblieben sind. Obwohl – oder gerade weil? – dieses Jahr so vieles so anders ist.

In wenigen Tagen rollt das sechste Weihnachten auf mich zu, bei dem auch der Ernst des Lebens mit am Tisch sitzt. Vielleicht hat er sich in den letzten Jahren als Gast nicht ausreichend wertgeschätzt gefühlt oder ist beleidigt, dass er mir Weihnachten bisher nicht hat vermiesen können. Dieses Jahr jedenfalls gibt er sich besondere Mühe, nicht nur mit einer zweiten Pandemiewelle – für meine Geschwister und mich wird es auch das erste Weihnachten mit geschiedenen Eltern. Selbst wenn im nächsten Jahr alles wieder seinen gewohnten Gang laufen sollte, bedeutet das für uns das endgültige Ende der Feiertage, wie wir sie kennen. Wir sind 26, 24 und 21 Jahre alt – alt genug also, um loszulassen. Trotzdem fühlt sich eine so einschneidende Veränderung der Kernfamilie an, als würde man ohne Chance auf Wiederkehr aus dem Nest geschubst. Man fliegt – irgendwie – aber wenn man sich umdreht, steht das Nest in Flammen. Daneben steht der Ernst des Lebens grinsend mit einer Streichholzschachtel in der Hand.

Anders, aber anders gut

Schon lange bevor Corona aller Welt einen Strich durch die Weihnachtsrechnung machte, war der Gedanke an das kommende Weihnachtsfest emotional lähmend. Wie sollten wir es schaffen, in dieser geschätzten Zeit glücklich zu sein, wenn es ausgeschlossen war, zusammen an einem Tisch zu feiern? Inzwischen stellen sich wahrscheinlich viele Familien dieselbe Frage. In unserem Fall war es meine Mitbewohnerin, die vorschlug, worauf ich in meiner sorgenvollen Stimmung selbst nicht kommen konnte. Statt uns dem drohenden Drama ausgeliefert zu fühlen, sollten wir Kinder selbst den Rahmen des Erträglichen stecken. Für meine Geschwister und mich war klar, dass wir zusammen feiern wollen. Der Deal: Wir planen, wir kochen, wir sorgen für gute Stimmung – wer daran teilhaben will, ist eingeladen. Vielleicht haben wir durch diese Verantwortungsübernahme den richtigen Ton dafür geschaffen, aber unsere Eltern wurden sich ohne Fiasko darüber einig, wer uns dieses Jahr wann sehen wird. Mama an Heiligabend, Papa zum Brunch am ersten Weihnachtsfeiertag.

Ob und wie unsere Pläne am Ende aufgehen werden, kann ich noch nicht sagen. Immerhin ist es für uns drei das erste Weihnachtsfest, für das wir hauptverantwortlich sind. Solange das Essen nicht anbrennt, bin ich aber optimistisch, und kochen können wir alle ziemlich gut. Ich habe den Ernst des Lebens dieses Jahr nicht ignoriert und für Weihnachten in die stille Ecke verbannt. Meine Geschwister und ich haben uns ihm gestellt und unsere weihnachtliche Rolle der Kinder ersetzt durch die Erwachsenen, die wir inzwischen geworden sind. Der Lohn: Die Erinnerung an die diesjährige Vorweihnachtszeit hätte getrübt werden können durch ständige Sorge und die Erwartung emotionaler Erschöpfung. Mit einer Mischung aus ernstem und ironischem Stolz kann ich stattdessen sagen, dass sie auch dieses Jahr wieder aus Lichterketten, Glockenspielen und Zimt bestehen wird – selbst während der Pandemie.

Annika Namyslo

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