Klassik auf YouTube ist mehr als „Music for Studying“. Labels und Interpret*innen nutzen die Plattform inzwischen ausgiebig. Im Vergleich zu Kolleg*innen aus dem Bereich der Popmusik, wo seit über 40 Jahren Musikvideos produziert werden, sind sie allerdings spät dran. Professorin Dr. Corinna Herr leitet ein DFG-Projekt mit dem Titel „Darstellung und Rezeption klassischer Musiker*innen bei YouTube: Aufführungs- und Lebenspraxen im digitalen Zeitalter“. Dabei begegnet sie vermeintlichen Aufnahmesessions in Alltagskleidung und unterschiedlichen Meinungen darüber, ob man sich über Opern lustig machen darf.
Sie untersuchen klassische Musiker*innen auf YouTube. Die meisten von uns kennen YouTube als Quelle für Popmusik, seien es Musikvideos oder Konzertmitschnitte. Was findet man dort im Klassikbereich?
Ganz unterschiedliche Formate: abgefilmte Aufführungen, Aufnahmesessions, aber auch Filme, die sich mit „normalen“ Musikvideos vergleichen lassen. Für die Klassik ist es ein Novum, dass Aufführungsformate nur für YouTube geschaffen wurden. Beispielweise gibt es einen Zeichentrickfilm, der im Rahmen eines Wettbewerbs als Video für ein Duett von Cecilia Bartoli und Rolando Villazón angefertigt wurde. Dieser Clip würde sicher nicht im Fernsehen laufen, hat aber im Netz seinen Platz.
In unserer Serie Weitergedacht: Wissenschaft & Perspektive fragen wir genau nach: zur Arbeit, Erfahrung und Sichtweise unserer Forschenden.
Viele assoziieren Klassik in erster Linie mit Konzerthäusern und Live-Aufnahmen. Was macht YouTube als Untersuchungsobjekt interessant?
In der klassischen Musik gibt es ein Authentizitätsparadigma. Ich habe lange an Musikhochschulen gearbeitet und dort werden Studierende immer nach ihren Live-Darbietungen beurteilt. Technik – aber interessanterweise nicht die Stimmtechnik“ – wird hier als etwas gesehen, das verfälscht, und das gilt nicht erst für die Post-Produktion, sondern schon für den Einsatz eines Mikrofons. In der Popmusik dagegen gehört das Mikro notwendigerweise zum Ausdruck dazu. Sie ist mit Übertragungsmedien aufgewachsen. Inzwischen befindet sich die klassische Musik aber ebenfalls in der Situation, dass sie sich auch im Internet präsentieren muss, und so kommen natürlich mehr technische Mittel ins Spiel. An dieser Stelle kann man die Entwicklung eines Genres wie im Reagenzglas beobachten.
Spielt Authentizität auch auf YouTube noch eine Rolle im Klassikbereich?
Einige Formate konstruieren gezielt Authentizität. Dabei wird so getan, als werde eine Probe oder eine Aufnahmesession gefilmt. In Wirklichkeit läuft aber die CD-Einspielung ab. Ein gutes Beispiel hierfür ist Jean Rondeau records ‚Vertigo‘ for harpsicord. Man sieht Rondeau – in Flipflops – gemeinsam mit zwei anderen zunächst das Cembalo in einen historisch ausgestatteten Raum tragen, hört dabei aber schon eine Aufnahme des Stücks. Das Video hat mit 1 Millionen Aufrufen für Klassik durchaus Aufmerksamkeit erlangt. Bei Roman Kim, einem jungen Violinisten, läuft keine CD-Einspielung, doch auch er zeigt sich seinem ersten Video bewusst in Alltagskleidung. In späteren Videos spielt er dagegen mehr mit Bildern und Narrativen. In aktuellen Aufnahmen von Probenvideos wird diese Konstruktion von Authentizität aber wieder aufgenommen, jedoch ist ist ein solches Video in Wirklichkeit ein noch stärkeres Kunstprodukt als ein Musikvideo mit Spielszenen, weil es seine Künstlichkeit verneint.
YouTube gilt als Plattform für DIY-Content. Gilt das ebenso für den Klassikbereich?
Der Mythos des Web 2.0, des Mitmachinternets, hat auch hier ein reales Fundament – bis zu einem gewissen Grad. Die digitale Welt kann gleichzeitig als ein Foucaultsches Dispositiv betrachtet werden, in dem es enorme Machtgefälle gibt: Labels können es sich leisten, ihren Stars professionell gedrehte Videos zu liefern, während „Indies“, also Künstler*innen, die sich selbst vermarkten, das nicht können. Sie produzieren ihre Videos eigenständig, zum Teil in Form von Handyfilmen. Gerade die Audioqualität ist dann nicht besonders gut. Doch das kann ausreichen, um zu einem Vorspiel eingeladen zu werden. Es ist leichter geworden, auch als Neueinsteiger*in Aufmerksamkeit zu bekommen. In Roman Kims Fall ist ein Agent auf seine YouTube-Videos und deren hohe Klickzahlen aufmerksam geworden, was dem Kim eine Asientour verschafft hat. Beim typischen Karriereweg lautet die Reihenfolge dennoch weiterhin „Bekanntheit, Labelvertrag und erst dann hochwertige Videoproduktion“. Aber es gibt inzwischen eine signifikante Minderheit, die hier selbst aktiv wird. Im Rahmen des Forschungsprojektes entsteht auch eine qualitative Studie, bei der Studierende an Musikhochschulen genau dazu interviewt werden.
Welche Rolle spielt das Aussehen von Künstler*innen abseits von authentischen Gesten wie Alltagskleidung?
Natürlich geht es in diesem Markt in erster Linie um die Technik und Brillanz der Interpret*innen, aber das Visuelle ist nicht bloß Window Dressing. Seit es Bilder gibt, also schon seit einigen hunder Jahren, besteht die Vorstellung, dass das Aussehen von Künstler*innen eine Relevanz für ihren Auftritt hat. Doch hier hat es Veränderungen gegeben: Mit dem Aufkommen des Fernsehens galten dicke Sänger*innen plötzlich als unvorteilhaft. Man hatte sie zuvor nicht aus solcher Nähe gesehen. Eine vermeintliche Telegenität war also bereits vor der digitalen Ära von Bedeutung. Indies haben heute Macht über das, was sie zeigen wollen, doch im Allgemeinen herrscht eine glattere Ästhetik vor als im Pop. Phänomene wie Body Positivity sind hier leider bisher nicht so entwickelt. Doch wer weiß, vielleicht kommt das noch.
Neben Aufführungspraxen, das heißt den Videos selbst, untersuchen Sie auch die Ebene der Rezeption, lesen also Kommentare.
Hierfür habe ich die Rezeption auf die Interpretation einer bestimmten Arie untersucht: Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen aus Mozarts Zauberflöte, gesungen von Diana Damrau als Königin der Nacht. Davon gibt es vier verschiedene Aufnahmen – zwei Inszenierungen, ein Konzert und eine Probenaufnahme. Das macht diesen Fall zu einem guten Beispiel, wenn es um Diskussionen über Medialisierung, Liveness und Authentizität geht. Diese Videos waren vor der Pandemie insgesamt über 38 Millionen Mal aufgerufen und mehr als 16.000 Mal kommentiert worden, was für die klassische Musik schon eine ganz schöne Hausnummer ist.
Was für Menschen kommentieren hier?
Das Publikum ist sehr divers. Es gibt Kenner*innen, die zeigen möchten, dass sie auch im Feuilleton schreiben könnten. Andere sind durch einen Werbespot auf das Stück aufmerksam geworden. Viele Rezipient*innen aus den USA kannten die Arie aus einem Zeichentrickfilm aus ihrer Kindheit, in dem das Stück von Vögeln gepfiffen wird. Sie sind dann oft überrascht, dass es in der Arie um Rache geht. Eine Person fragte: „Weiß jemand, wie das Musical heißt?“ Darauf gab es natürlich viele Reaktionen, von einem „LOL“ bis zur Entrüstung: „Wie kann man nur so blöd sein“. Doch der Punkt ist ja: Niemand ist hier blöd. Diese Menschen geraten einfach aus ganz unterschiedlichen Bereichen in diesen Kontext und entdecken so manchmal auch ihre Liebe zur sogenannten Klassischen Musik.
Wie gehen die User*innen im Allgemeinen miteinander um?
Es gibt relativ wenig Trolle im Klassikbereich. Humor spielt allerdings eine wichtige Rolle: Lustige Kommentare bekommen besonders viele Likes und Antworten. In der Salzburger Inszenierung von 2006 hat Damrau ein grünes Kleid an und die Darstellerin der Pamina ein orangenes. Dazu kommentierte jemand: „Why is that broccoli bullying the carrot?“ Aus dieser Idee wurde eine Art Running Gag. Andere User*innen meinten beispielsweise, die Oper sollte besser „The Vegetable Flute“ heißen. Aber natürlich gibt es auch solche, die ein eher konservatives Kunstverständnis haben und sich, teils in Großbuchstaben, über dieses „ungebührliche“ Verhalten beschweren.
Begegnen Sie schon mal der Ansicht, Digitalität habe negative Auswirkungen auf die Musikkultur?
Solche Einstellungen finden sich tatsächlich weniger auf YouTube als in der Forschung. Es gibt Musikwissenschaftler*innen, die Rezipient*innen auf diesem Kanal für nicht untersuchenswert halten. Mein Fach ist nunmal sehr konservativ. Auch als ich in Musikhochschulen das Medium Film besprochen habe, gab es kritische Stimmen. Etwa zu Musikvideos von Anna Prohaska, die schon relativ früh Filme in ihr Portfolio aufgenommen hat. Hier wurde bemäkelt, dass die Künstlerin nicht live singe. Doch wie soll sie das tun, wenn das Video in einem Berliner Bahnhof gedreht wurde? Zumal es dieses „Problem” ja bereits im Bereich der Aufnahme gibt. Sänger*innen müssen auf der Bühne zwangsläufig anders singen, als sie es tun, wenn sie ein Mikrofon nutzen. Natürlich wird hier nachher abgemischt, aber trotzdem hört man, dass sie sich anstrengen. Liveaufnahmen sind ungefilterter, Stärken und Höhen treten anders hervor. Viele würden das vermutlich als „Echtheit” beschreiben, doch es ist einfach eine andere Art der Aufnahme. Auf langen Autofahrten habe ich viel Zeit, sowohl Live- wie Studio-Einspielungen zu hören, und denke viel darüber nach. Auch Live-Aufnahmen haben für mich ihren Reiz, doch ich kann sie mir nicht unbegrenzt lange anhören. Irgendwann brauche ich eine Studio-Aufnahme, um meine Ohren zu entspannen. (lacht) Davon abgesehen gibt es ja auch noch das Live-Erlebnis.
Konzerte waren in Pandemiezeiten lange nicht oder nur eingeschränkt möglich. Hat das dazu geführt, dass mehr Menschen klassische Musik über das Internet rezipieren?
CDs sind im Klassikbereich nach wie vor relevant, doch Streaming ist im Verlauf der Pandemie wichtiger geworden, da Künster*innen immerhin ein wenig ihr Einkommen sichern konnten. Wer mehr wissen will: Im Rahmen unserer Tagung Rollen und Funktionen von Musik in der digitalen Ära im Juni 2022 hat sich Julia Haferkorn mit diesem Thema beschäftigt.
Interview: Laura Schwinger