Welche Geschichte kann eine Wiese erzählen und was steckt hinter den Häusern in meiner Nachbarschaft? Kulturelles Erbe gibt es überall, doch oft ist es nicht als solches erkennbar. Michael Klemm, Professor für Medienwissenschaft am Campus Koblenz, ist Leiter des Projekts „Digitale Erfassung und Präsentation von Kulturlandschaften in Rheinland-Pfalz“, kurz KuLaDig-RLP. Er widmet sich mit seinem Team der medialen Aufarbeitung von kulturellem Erbe.
Oft sind es keine monumentalen historischen Bauten, sondern viel unauffälligere Orte, die Geschichten erzählen. So etwa in Kelberg, einer kleinen Gemeinde in der Vulkaneifel: Dort gibt es eine Wiese, die Teil einer “KuLa-Tour” ist. Sie erzählt über einen Lebensabschnitt der Kamillen-Traud. Gertrud Feiler lebte von 1884 bis 1964 in der Gegend, war als Streunerin bekannt, sammelte Kamillen und verkaufte sie. Die Kamillen-Traud dient als Beispiel für die Sozialgeschichte ihrer Zeit in der Vulkaneifel. “Das Projekt pflegt einen relativ offenen Kulturbegriff. Nicht nur Denkmäler und Häuser, sondern vor allem die Geschichten dahinter und die der Menschen, die zu der Zeit lebten, sind interessant”, betont Klemm.
In unserer Serie Aus dem Labor stellen wir Menschen und Projekte vor, die die Forschung voranbringen.
Kultur.Landschaft.Digital. ist eine Plattform, die kulturelles Erbe und Kulturlandschaften digital erfasst. Sie wurde 2002 vom Landschaftsverband Rheinland gegründet und hat ihren Fokus zunächst auf den Rhein und Nordrhein-Westfalen gelegt. In Rheinland-Pfalz ist die Plattform noch ein junges Projekt, der Landes-Beauftragte heißt Matthias Dreyer, der auch die Teilnahme von Rheinland-Pfalz initiierte. Unterstützung suchte und fand Dreyer bei Michael Klemm. Das Projektteam unterstützt nun Kommunen mit seinen Kenntnissen in der Digitalisierung, damit diese ihre eigenen Vorstellungen umsetzen können.
Eine Herausforderung, die sich auszahlt
Zunächst für drei Jahre ausgelegt, wird das Projekt vom rheinland-pfälzischen Innenministerium und der Universität Koblenz-Landau finanziert. Aktuell befindet es sich im zweiten Projektjahr. Jedes Jahr können sich zehn Kommunen für die Teilnahme bewerben. Das Projektteam aus Klemm, Dreyer, Florian Weber als wissenschaftlichem Mitarbeiter und drei studentischen Hilfskräften steht den Kommunen beratend zur Seite. Studierende der Kulturwissenschaft übernehmen mithilfe von Ortskundigen die Aufarbeitung der Informationen über das kulturelle Erbe. “Für die Studierenden ist das sicher eine Herausforderung, weil sie vor vielen neuen Aufgaben stehen. Viele haben noch nie Interviews geführt und Videos produziert oder sind mit Kommunen ins Gespräch gekommen”, sagt Klemm. Aber am Ende könnten sie etwas vorweisen, da sie in den Veröffentlichungen namentlich genannt würden. “Man muss sich herantasten und ausprobieren, das kann eine wertvolle Erfahrung sein”, so der Professor.

Auf der Wissensplattform kuladig.de des Landschaftsverbands Rheinland werden die Beiträge veröffentlicht. Foto: Screenshot
Viele schöne sowohl aktuelle als auch historische Fotos, weitere Informationen und alles über die neuen Entwicklungen des Projekts gibt es auf dem Instagram-Kanal kuladigrlp.
Klemm hat einen positiven Eindruck von den Studierenden. Alle sind in diesem Jahr dran geblieben und scheinen Spaß zu haben. “Die Durchführung des Projekts würde ohne sie nicht funktionieren, da wir zehn Kommunen pro Durchgang betreuen und die Studierenden als Unterstützung brauchen”, sagt Klemm. Im Optimalfall sind es 30 Studierende, also drei pro Kommune. Dem Konzept und den Wünschen der Gemeinden folgend, nehmen sie sich die Objekte vor und erfassen sie medial – mit Texten, Fotos, Videos oder Audioaufnahmen. Um die Objekte oder Geschichten in KuLaDig einzuspeisen, braucht es immer einen Ort, dem sie zugeordnet werden können. So können sie in einer Karte lokalisiert und via Smartphone-App gefunden werden.
Für Groß und Klein
Neben der Erfassung des kulturellen Erbes soll das Projekt auch als Modell für andere Kommunen dienen. Dafür werden möglichst unterschiedliche Orte ausgewählt: mit einer Größe von 300 bis 100.000 gemeldeten Personen, manche mit dem Schwerpunkt auf Industrie, andere auf Weinbau. Im ersten Durchgang hat das Projektteam gezielt Kommunen angesprochen, um möglichst breit gefächert zu sein. Im aktuellen und nächsten Durchgang sollen sich die Orte bewerben und ihr Konzept vorstellen. Dafür wurden im Oktober alle Kommunen in Rheinland-Pfalz auf das Projekt aufmerksam gemacht.

Das Projektteam vom KuLaDig-RLP beim Projektreffen in Cochem: (v.l.) Michael Klemm, Sarah Krieger, Lisa-Marie Lösch, Matthias Dreyer und Florian Weber. Es fehlt Larissa Ragg. Foto: privat
Auch außerhalb des Projekts können sich interessierte Kommunen mit KuLaDig befassen und ihr kulturellen Objekte oder Geschichten dort einarbeiten. Dafür steht Matthias Dreyer zur Verfügung. Durch die intensive Betreuung und Unterstützung stößt das Projekt auf sehr viele positive Reaktionen. Weitere Orte möchten sich bewerben und lokale Medien in den beteiligten Kommunen berichten über die Vorgänge. Klemm freut sich über die Aufmerksamkeit: “Wir bekommen viel positive Resonanz und das Projekt wird von allen als sinnvoll angesehen. Das hat man nicht immer so.”
Ein Gesicht für das Ehrenamt
Nicht nur die Kultur an sich, sondern auch die Leute, die historisch gebildet sind und sich mit der Region und ihrer Geschichte auskennen, sieht Klemm dabei im Fokus. “Die Kommunen leben vom ehrenamtlichen Engagement. Es gibt überall Stadtarchivare, Chronisten oder andere Wissensträger, die spannende Geschichten kennen, aber selten gehört werden”, so der Professor. “Wir wollen diesen Leuten eine Stimme oder ein Gesicht geben, da sie bisher zu wenig Anerkennung bekommen”, meint Klemm.

In Diez an der Lahn erstellten die Studierenden ihre Beiträge zu Rahmenthema “Herrschaft des Hauses Nassau”. Foto: Screenshot
Der Weg in die Öffentlichkeit
Es ist eine Sache, wenn die Objekte in KuLaDig erfasst sind, eine andere jedoch, sie tatsächlich in die Öffentlichkeit zu tragen und die Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Mit dem Projekt geschieht Letzteres: In Maikammer, einer pfälzischen Kommune, die im vergangenen Jahr beteiligt war, werden die Daten nun in Stadtführungen integriert. Eine weitere Methode, die gut funktioniert, ist ein QR-Code an der Hauswand, der zu KuLaDig führt. Vorübergehende können sich so über die Geschichte des Hauses informieren. Zusätzlich gibt es vielleicht ein Video, in dem der Hausbesitzende durch das Innere führt. Es gibt viele weitere Möglichkeiten. In einem Beitrag über eine alte Glocke kann beispielsweise deren Klang als Audiospur eingebaut werden, auch virtuelle 360°-Rundgänge sind momentan in Arbeit. Diese Formate sollen im Zuge des Projekts getestet werden.
Zurück zu den Wurzeln
Das Projekt hat gute Aussichten, 2021 um drei Jahre verlängert zu werden und damit in neue Richtungen zu experimentieren. Klemm hofft darauf, mehr Aufmerksamkeit auf die Geistes- und Kulturwissenschaften zu lenken, die seiner Meinung nach sonst häufig untergehen: “Das Projekt ist ein gutes Beispiel dafür, dass dieser Zweig interessante und wichtige Beiträge leisten kann, die gleichzeitig modern sind.” Er sieht großes Potenzial in KuLaDig und arbeitet daher am Ausbau. So plant er mit Siegmar Seidel, dem Leiter des Ruanda-Zentrums der Universität, auf eine internationale Ebene zu gehen und afrikanisches Kulturerbe zu erfassen – gewiss auf ganz andere Art als in Rheinland-Pfalz. Klemm sieht darin einen Mehrwert für die Gesellschaft, da kulturelles Erbe überall mit Identifikationsmöglichkeiten einhergeht. Es könne nicht nur als interessante Attraktion für Urlaubsgäste dienen, sondern gerade Einheimischen ihre Heimat näher bringen. Manche könnten überrascht sein, was sie durch die KuLaDig-App oder die Website in ihrer Umgebung finden.
Nadja Riegger